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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Swjatowit erhaben waren, die aber nur desshalb in untergeordneter Stellung verbleiben, weil sie uns Niemand beschrieben.) Hier gilt Hypothese gegen Hypothese; keine aber wird sich vollständig erhalten, keine im Stande sein, eine allseitige Anerkennung sich zu verschaffen, so lange wir nicht die Mythologien der einzelnen slawischen Völkerschaften, wie sie uns historisch vorliegen, durchgearbeitet haben (wir deuten hier auf die trefflichen Arbeiten Thumnanns und besonders Bartholds hin), so lange nicht jede einzelne Göttergestalt in ihrer Individualität aus dem Wuste der tausend verschiedenen, einander nicht selten widersprechenden Nachrichten herausgehoben und eine vollkommene Kenntniss ihres Inhaltes und ihres Umfanges uns möglich gemacht wird, wie das der ehrenwerthe Schafarik mit den Rusalken gethan. Erst dann werden wir das Verhältniss der einzelnen Gottheiten gegen einander und zum menschlichen Leben auffassen, und aus den einzelnen Mythenkreisen, in welche dann die bisherigen Systeme zerfallen werden, die ursprüngliche Gestalt des slawischen Mythus als eine einzige Gesammtheit und ein Ganzes herausarbeiten können. Und darum scheinen uns beide vorliegende Schriften, so werthvoll und verdienstlich sie an sich sind, dennoch nur ein geringer Fortschritt für die Wissenschaft selbst. — Ueberhaupt scheint es uns aber jetzt schon an sich zu frühe, wenn wir von einer Wissenschaft des slawischen Mythus, von einer systematischen Mythologie des Slawenthums reden wollen. Wir haben noch eine grosse, übergrosse Menge Quellen für diesen Gegenstand zu sammeln; es sind diess die Fingerzeige, die sich in den Sitten und Gebräuchen, in den eigenthümlichen Meinungen und dem Aberglauben, in den örtlichen Sagen und Mährchen, in den Sprichwörtern, in den Volksliedern, selbst in der Sprache (einzelne Wörter, die oft Appellative aus Eigennamen geworden und umgekehrt) bei den einzelnen slawischen Volksstämmen bis auf diese Stunde vorfinden, welche aber leider so ganz unbeachtet gelassen werden, bis sie im Volke aussterben. Ein einzelnes Wort, eine einzige Idee, ein unbedeutender Gebrauch, eine gewöhnliche Redeweise kann da über einzelne Fragen Aufschluss geben, mit deren Lösung man sich lange Zeit umsonst abgemartert hat. Und dennoch versäumen noch so viele Männer, die mitten unter ihrem slawischen Volke leben, so interessante Data aufzuzeichnen und verweigern so selbst diesen geringen Dienst, den sie der Wissenschaft erweisen könnten. Wenigstens in unserer Lausitz geschieht das; denn dort gibt es noch so viele Sagen unter dem Volke, Erzählungen von Kobolden und Hexen und dergleichen mehr, an die wir uns aus unserer frühesten Kindheit nur dunkel noch erinnern, die aber keiner unserer gelehrten Männer dort aufzuschreiben für nothwendig hält. In andern slawischen Ländern mag das wohl anders sein und ist anders, wie man sich z. B. nur aus den Schriften Kollar’s überzeugen kann. Aber[1] es giebt noch so viele andere slawische Länder, in welchen man für diesen Zweck ungeheuere Ausbeute finden müsste, wie z. B. die südslawischen Länder, besonders Montenegro mit seiner urslawischen Verfassung und Sitte, die Karpathengebiete, Russlands belebtere Gouvernements u. s. w.; denn je weniger ein Volk der europäischen Kultur und Wissenschaft sich genähert, desto weniger bekannt ist sein eigenthümliches Leben, seine Seele. Und darauf machen wir alle gebildete Slawen aufmerksam, dahin müssen die Bestrebungen unserer Archäologen zunächst gerichtet sein. Wir haben noch viel, sehr viel zu sammeln, ehe unsere Scheuern die Fülle des Segens fassen werden, welche uns die Gottheit zugetheilt.


Kurs drugoletni (1841—1842) Literatury sławiańskiéj wykładanéj w Kollegium Francuzkiém przez Adama Mickiewicza. (Der zweitjährige Kurs der slawischen Literatur, vorgetragen im College de France von Ad. Mickiewicz.) Paryz 1842. XII u. 276 S. 8.

 Nach der Vorrede ist das vorliegende Buch auf eine eigenthümliche Weise entstanden. Mickiewicz hat nämlich bei seinen Vorlesungen weder ein Concept, noch trägt er nach etwa gemachten Notaten vor; sondern er spricht frei und wie es ihm der Augenblick eingibt, über den Gegenstand, den er zu seinem Vorwurfe genommen. Alles was daher von seinen Vorlesungen übrig bleibt, sind entweder allgemeine kurze Notizen oder stenographische Nachschreibung. Beides bietet eigenthümliche Schwierigkeit, wenn man den Text möglichst getreu und dem Geiste des Gesprochenen angemessen zu Papier fördern will. Mickiewicz hat zwar die Absicht, wie es daselbst weiter heisst, seine Vorträge nach Stenographien zu veröffentlichen; allein darüber vergehe viel Zeit und die Redaction des polnischen Journals: Dziennik narodowy, entschloss sich in Anerkennung der ungemeinen Wichtigkeit des Gegenstandes und in Besorgniss, es sei Gefahr im Verzug, da es sich um höhere Zwecke handele, die Vorlesungen allwöchentlich unter dem Titel von „Auszügen“ in ihrem Blatte zu veröffentlichen. Diese „Auszüge“ wurden nun freilich ohne Beihülfe des Autors nach Notaten und Stenographien gemacht und es können sich bei der Eile, mit welcher diess geschehen musste, leicht Irrthümer, Missverständnisse des Gesprochenen und dergleichen eingeschlichen haben. Der Verfasser war auch nicht im Stande, die Handschrift zu lesen, noch die etwa vorkommenden Fehler zu verbessern; allein dennoch erkannte er selbst den Text für ächt an und setzte dem Unternehmen kein Hinderniss in den Weg. So wurden dann jene Berichte im Dziennik narodowy umgebrochen und in dieses Buch zusammengedruckt. Auf eine ähnliche Weise soll auch der erste Cursus (1840—1841) herausgegeben werden. Wenn wir nun offen eingestehen, dass es uns viel lieber gewesen

Empfohlene Zitierweise:
J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 68. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/79&oldid=- (Version vom 7.10.2022)
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