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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang

Schriftsprache (im Geiste der Nation) war damals noch keine Rede; sie führte erst Lomonossow ein. Er, sowie Chwastow und die übrigen gleichzeitigen Schriftsteller unter Katharina I. und ihren Nachfolgern waren Männer von Rang und Würden, oder wurden wenigstens zu solchen gemacht; die Literatur erfreute sich im Dienste des Hofes, ohne an den Geist der Nation sich anzuschliessen. Und der Hof war damals noch nicht im Stande, sie aus ihrer Niedrigkeit zu erheben; denn er ward von den auswärtigen Angelegenheiten des Staates allzusehr in Anspruch genommen. Erst als unter Katharina II. Ruhe und Frieden in das Land zurückkehrte, wurde ein regeres geistiges Leben wach. Dasselbe fand in Polen unter Stanisław August statt; denn die früheren Bemühungen eines Konarski und der Piaristen zeigten erst jetzt ihre Wirkung. So beginnt denn mit dem Jahre „1760 eine neue Periode“ für die nördlich-slawische Literatur; die südliche und westliche (in Böhmen) blieb in ihrem Todesschlummer, aus dem letztere auch die Anstrengungen eines Marschall Kinský nicht zu wecken vermochten. Naruszewicz und Derzawin sind die beiden Vorkämpfer dieser Epoche. Letzterer ist kein lyrischer Dichter; die Slawen haben überhaupt bisher noch keinen solchen, sonst würden sich grössere Erfolge in der Literatur zeigen; denn die Lyrik hat auf die Slawen ein ungemeines Gewicht, das zeigen ihre Volkslieder und die Musik derselben (worüber sehr viel Treffliches gesagt wird). In Polen beginnt eine neue Geschichte; die Confederation von Bar und ihre Grundidee, ausgebildet durch den Priester Marek, und in ihrer Literatur die erste Stimme wahrer lyrischer Poesie erhebend, bildet den Dichter-Kreis, an dessen Spitze Krasicki steht, widerspricht aber durchaus der Idee, welche sich an dem Petersburger Hofe entwickelt hat, so dass sich endlich der Grundgedanke herausstellt, das erwachende Gefühl der Unabhängigkeit unter den Russen könne sich nicht vereinigen mit der Freiheit Polens. Dadurch wird nun der Kampf vorbereitet, in welchem „Polen von Russland zermalmt“ wurde. „Und nun (fährt Mickiewicz S. 130 fort) ist es nothwendig, die Umgestaltung der von Polen repräsentirten Idee zu verfolgen und zu sehen, ob diese Idee wieder verkörpert werden könne; denn ausser dieser Idee gibt es keine hinreichende Macht, welche im Stande wäre, Russland zu bändigen, und seinem Einfluss ein Gleichgewicht zu halten — oder es auf eine bessere Bahn zu lenken.“ Ehe er indess auf diesen Wettkampf tiefer eingeht, überblickt der Autor noch ein Mal den Zustand des slawischen Volkes, zeigt wie derselbe ein viel schlimmerer sei als zu den Zeiten des Jornandes und Prokopios, da dasselbe von allen Seiten niedergebeugt werde; aber zwei Grundideen seien gerade durch diese Bedrückungen in das Volk desto tiefer eingedrungen, die Zuversicht auf die Hülfe Gottes und der Gedanke, dass alle slawischen Völkerschaften nur ein einziges Volk bilden. Dieses führt ihn zu „dem Uebergange in die neue Literatur“ (S. 132). Die grössten Dichter der vergangenen Periode in Polen begleiten im feierlichen Zuge ihr Vaterland zu Grabe (Lect. XIX.); in Russland singt Derzawin seine Ode auf die Einnahme Warschaus. Aber selbst unter dem Joche Russlands schreitet Polen vorwärts; es beginnt seine socialen Reformen und führt so die „Geschichte und Literatur der Neuzeit“ herbei, welche beide von Mickiewicz gemeinschaftlich behandelt werden. Ausserhalb Polens (Lect. XXI.) wirkt der Geist eines Niemcewicz für sein Volk und die Freiheitslieder der Legionisten sind das Losungswort für die nächstfolgende Geschichte. Während den Polen im Westen ein neuer Anhaltspunkt in Napoleon in Aussicht gestellt wird, schmachten Tausende ihrer Brüder in Sibirien und veranlassen nun, dass der Name „Sybir“ zuerst in der polnischen Literatur genannt wird, aber dann desto häufiger und immer in den Farben, mit welchen Dante seine Hölle gemalt. Napoleon kam und gründete das Fürstenthum Warschaw; es entstand die polnisch-napoleonische Literatur (Lect. XXVI.): Kozmian, Wenzyk (Wezyk), Godebski, Reklewski, Gorecki. Aber Napoleon fiel, und aus dem freien Fürstenthum ward ein russisches Königreich (Napoleons Wichtigkeit für das Slawenthum, seine Sendung S. 200.). In Russland war indess das Licht Karamzins aufgegangen; es entstand eine Reaction des Slawenthums gegen das eindringende Fremdenthum von Petersburg, an deren Spitze sich Moskwa stellte. Die Geschichte der Literatur verwuchs mit der Staatsgeschichte auf das Innigste. (Lect. XXVII.) Das religiöse Gefühl, das einzige Mittel, die slawischen Völker zu vereinen, machte sich in Polen wie in Russland geltend, Batjuschkow ist hier der Träger desselben. Dieses und das neuerwachte Gefühl der Nationalität, das in Puschkin seinen glänzenden Repräsentanten fand, riefen die grosse Verschwörung hervor, die nach dem Tode des Kaiser Alexanders zum endlichen Ausbruche kam, aber gänzlich misslang, und so nach der Ansicht des Autors die russische Literatur zu Grabe trug. (Vrgl. den von uns aus dem „Kursus“ mitgetheilten Abschnitt S. 51.) — Die polnische Literatur der Gegenwart hat zwei einander fern stehende Elemente, eines im Vaterlande, und ein anderes in der Emigration. Jenes berührt Mickiewicz nur ganz oberflächlich; dieses dünkt ihm das Wichtigste und das für die Zukunft entscheidende. Es ist rein politisch seinem Wesen nach; die beiden Dichterschulen: die lithauische und die ukrainische, reichen einander die Hände, die Idee des Panslawenthums verbreitet sich nun allmählig unter diesen Schriftstellerkreis. (Lect. XXXII.) Die letzte, die drei und dreissigste (!) Vorlesung ist die interessanteste des ganzen Werkes; hier stellt der Verfasser seine Grundansichten über den Charakter und die Zukunft der slawischen Hauptvölkerschaften auf. Er sagt, in Russlands Staatsmaxime herrschen noch die Grundsätze

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J. P. Jordan: Jahrbücher für slawische Literatur, Kunst und Wissenschaft. Erster Jahrgang. Robert Binder, Leipzig 1843, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Jahrb%C3%BCcher_f%C3%BCr_slawische_Literatur,_Kunst_und_Wissenschaft_1_(1843).pdf/81&oldid=- (Version vom 25.11.2022)