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von oben; es fehlte ihnen aber auch die entsprechende göttliche Ausrüstung; im Gegentheil liegt offen zu Tage die Unklarheit ihres Bewußtseins in Bezug auf die Arbeit, die ihnen vorlag, ihre Unfähigkeit, die große Aufgabe zu übersehen, ihr Mangel an Weisheit und göttlicher Erleuchtung, um das Bestehende im Cultus, Disciplin und kirchlicher Ordnung zu reinigen etc. Deshalb ist ja nicht zu verwundern, daß diese vorgegebene Reformation ihren Zweck, Gottes Tempel zu reinigen und sein Heiligtum wieder aufzubauen, schlechterdings nicht erreichte.“

 So urteilt der Irvingianismus über die Reformation. Uns genügt es, zur Entgegnung einfach darauf hinzuweisen, daß Luther, als er auf Kanzel und Katheder und im Beichtstuhl gegen die Irrtümer und Misbräuche der römischen Kirche zu zeugen anfieng, einfach in seinem ordentlichen Beruf als zeitweiliger Vertreter eines Wittenberger Pfarrers in seinem Seelsorge- und Predigtamt und als vereidigter Doctor biblicus handelte. Der außerordentliche Anklang aber, den sein Zeugnis fand, der ungeahnte Erfolg, mit dem es Gott segnete, ist der Thatbeweis für seinen außerordentlichen – in gewissem Sinne – prophetischen Beruf und für die Göttlichkeit des Werks der Reformation. Die irvingianischen Apostel dürften froh sein, wenn sie den hundertsten Theil solchen Erfolges für sich aufweisen könnten. Wo ist das göttliche Siegel (1 Cor. 9, 2) für ihr angemaßtes Apostelamt?

 Und wie zu dem Werk der Reformation selbst, so kann der Irvingianismus auch zu den Grundlehren der Reformation kein richtiges Verhältnis finden.

 Ein protestantischer Grundsatz ist die Lehre von der alleinigen Autorität der heiligen Schrift in Glaubenssachen. Die irvingianische Behauptung aber von der lehramtlichen Unfehlbarkeit ihrer Apostel, die thatsächliche Gleichstellung der „Äußerungen“ ihrer Propheten mit der heil. Schrift ist ähnlich wie die römische Gleichstellung von Schrift und Tradition eine Beeinträchtigung des obersten Ansehens der Schrift in allen Fragen des Glaubens und Lebens.

 Eine zweite Grundlehre, ja die rechte Hauptlehre des Protestantismus ist diejenige von der Rechtfertigung allein aus Glauben. Wie steht der Irvingianismus zu dieser Lehre, die den Herzschlag evangelischen Glaubenslebens bildet? Nun – er läugnet sie nicht, aber er verhält sich kühl dagegen. Jedenfalls steht sie ihm nicht im Mittelpunkte des persönlichen Christenlebens. Irving selbst war sogar ein Gegner dieser Lehre.

 In einer mir vorliegenden Schrift: „Die neuen Apostel und ihre Lehre, Bern 1853“ ist aus einem Briefe Irvings an einen Geistlichen folgende Stelle mitgeteilt: „Ihr Glaubensartikel ist nichts Anderes als das Leiden eines vollkommen heiligen Wesens, das von Gott und Menschen behandelt wurde, als ob es ein Übertreter gewesen wäre! Entweder fand sich Christus im Stande eines Sünders, oder er fand sich nicht darin. Wenn er sich darin fand, so ist meine Behauptung zugestanden; fand er sich aber nicht darin und soll ihn Gott so behandelt haben, als ob er sich darin befunden hätte, wenn das der Sinn ist von dem, was sie Zurechnung und Stellvertretung nennen – so weiche solch eine Lehre ferne von mir!“