Seite:Kalewala, das National-Epos der Finnen - 002.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

     Lieder gab mir selbst die Kälte,
Sang gab mir der Regenschauer,
Andre Lieder brachten Winde,
Brachten mir des Meeres Wogen,
Worte fügten mir die Vögel,

70
Sprüche schuf des Baumes Wipfel.

     Sammelt’ sie zu einem Knäuel,
Band zusammen sie in Bündel;
That den Knäuel auf das Schlittchen,
Auf den Schlitten jenes Bündel;
Führte sie in meine Wohnung,
Mit dem Schlitten zu der Scheune,
That sie auf des Bodens Sparren
In den kupferreichen Kasten.
     Lagen lange in der Kälte,

80
Weilten lange im Verwahrsam;

Soll das Lied ich aus der Kälte,
Aus dem Frost den Sang ich holen,
Meinen Kasten nach der Stube,
Zu dem Tische meine Kiste,
Unter diese schönen Sparren,
Und dieß Dach das weitberühmte,
Meinen Liederkasten öffnen,
Diese Kiste voll Gesanges,
Soll des Knäuel’s End’ ich lösen,

90
Lösen dieses Bündels Knoten?

     Werd’ ein hübsches Lied so singen,
Daß es wunderschön ertöne
Von dem Bier, das ich genossen,
Von dem schönen Gerstentranke;
Sollte man kein Bier mir bringen
Und kein Dünnbier mir hier reichen,
Singe ich mit magrem Munde,
Singe ich bei bloßem Wasser
Zu der Freude unsers Abends,

100
Zu des schönen Tages Zierde,

Oder zu der Lust des Morgens,
Zum Beginn des neuen Tages.



     Hörte oftmals also sagen,
Hörte oft im Liede singen:
Einzeln nahen uns die Nächte,
Einzeln leuchten uns die Tage,
Einzeln ward auch Wäinämöinen,
Dieser ew’ge Zaubersprecher,
Von der schönen Lüftetochter,

110
Die ihm Mutter war, geboren.

     Jungfrau war der Lüfte Tochter,
Sie, die schöne Schöpfungstochter,
Trug gar lang’ ihr einsam Dasein,
Alle Zeit ihr Mädchenleben
In der Lüfte langen Räumen,
Auf den flachgebahnten Fluren.
     Einsam ward ihr dort das Leben
Und das Sein gar unbehaglich,
Immerfort allein zu weilen,

120
So als Jungfrau dort zu wohnen

In der Lüfte langen Räumen,
In der weitgestreckten Öde.
     Nieder ließ sich da die Jungfrau,
Senkt sich auf des Wassers Wogen,
Auf des Meeres klaren Rücken,
Auf die weitgedehnte Öde;
Fing ein Sturmwind an zu blasen,
Aus dem Osten wildes Wetter,
Treibt das Meer zu wildem Schäumen,

130
Daß die Wellen wüthend wogen.

     Sturmwind wiegte dort die Jungfrau,
Mit ihr spielt des Meeres Welle
Auf dem blauen Wasserrücken,
Auf den weißbekränzten Fluthen;
Schwanger blies der Wind die Jungfrau
Und das Meer verlieh ihr Fülle.
     Und es trug des Leibes Härte,
Seine Fülle sie mit Schmerzen
Ganze siebenhundert Jahre,

140
Trug sie neun der Mannesalter,

Ohne daß das Kind geboren,
Daß zum Vorschein es gekommen.
     Also schwamm als Wassermutter
Bald nach Osten, bald nach Westen,
Bald nach Norden, bald nach Süden,
Sie zu allen Himmels Rändern,
Angstvoll ob der Frucht des Windes,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 2. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_002.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)