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Fünfzehnte Rune.


     Lemminkäinen’s alte Mutter
Dachte stets in ihrem Hause:
„Wohin ist wohl Lemminkäinen,
Wo mein Kauko hingerathen?
Höre nicht, daß er gekommen
Schon zurück von seiner Reise.“
Ach, nicht wußt’s die arme Mutter,
Nicht die mühvoll ihn getragen,
Wo ihr Fleisch sich nun bewegte,

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Wo ihr eigen Blut sich regte,

Ob er nach dem Fichtenberge,
Nach dem Heideland gegangen,
Oder auf des Meeres Rücken,
Auf die schaumbedeckten Fluthen,
Oder in das Kriegsgetümmel,
In die grausenhaften Schlachten,
Blutbefleckt bis an die Weichen,
Rothgefärbt bis zu den Knieen.
     Kyllikki, die schöne Hausfrau,

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Blickt sich um nach allen Seiten,

In dem Hause Lemminkäinen’s,
In dem Hofe Kaukomieli’s,
Schaut am Abend nach der Bürste,
Blicket Morgens auf dieselbe,
Da geschah’s an einem Tage,
Um die Zeit der Morgenstunde,
Daß das Blut aus seiner Bürste,
Roth es von den Borsten tropfte.
     Kyllikki, die schöne Hausfrau,

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Redet Worte solcher Weise:

„Mir ist nun mein Mann geschwunden,
Mir mein Kauko nun verloren
Auf den unbewohnten Stegen,
Auf den unbekannten Wegen,
Blut entströmet schon der Bürste,
Rothe Tropfen ihren Borsten.“
     Lemminkäinen’s Mutter selber
Schaute hin auf seine Bürste,
Fing dann selber an zu weinen:

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„Weh mir Armen ob des Lebens,

Ob des Daseins mir Unsel’gen,
Schon ist mir mein liebes Söhnchen,
Schon das Kind der Unglücksvollen
In gar schlechte Tag’ gekommen,
Unheil hat den armen Knaben,
Schaden Kauko nun betroffen,
Blutig strömt es aus der Bürste,
Rothe Tropfen aus der Borsten.“
     Rafft den Saum mit ihren Händen,

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Mit den Armen ihre Kleidung,

Läuft geschwinde auf dem Wege,
Eilt und läuft mit allen Kräften,
Berge bebten bei dem Gange,
Thäler stiegen, Höhen sanken,
Hohe Länder wurden niedrig,
Tiefen stiegen in die Höhe.
     Kam nun zu des Nordlands Stuben
Fragt’ und fragte nach dem Sohne,
Fragt und redet solche Worte:

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„O du Wirthin von Pohjola,

Wo hast du den Lemminkäinen,
Meinen Sohn du hingesendet?“
     Louhi, Nordlands alte Wirthin,
Gab zur Antwort solche Worte:
„Weiß von deinem Sohne gar nicht,
Wo derselbe hingerathen;
Spannt’ den Hengst an seinen Schlittten,
Gab ein Roß ihm voller Feuer,
Ist ertrunken in der Wuhne,

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In des Meeres Eis erstarret,

Oder in des Wolfes Rachen,
In des Bären Schlund gerathen.“
     Sprach die Mutter Lemminkäinen’s:
„Sprichst gewiß nur lauter Lügen,
Mein Geschlecht’ verzehrt der Wolf nicht
Nicht der Bär den Lemminkäinen,
Mit dem Finger wirft er Wölfe,
Mit den Händen Bären nieder;
Wirst du mir nicht wahrhaft sagen,

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Wohin du gesandt denselben,
Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 75. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_075.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)