Seite:Kalewala, das National-Epos der Finnen - 078.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

     Harkte da nach ihrem Sohne

250
Durch des Tuoniflusses Länge,

Harkte drauf dem Strom entgegen,
Harkte einmal, dann das zweite,
Fischte auf das Hemd des Sohnes,
Fischt’ es auf mit trübem Sinne,
Harkte noch zum zweiten Male,
Fing die Strümpfe sammt dem Hute,
Fing die Strümpfe gar bekümmert,
Fing den Hut voll Gram im Herzen.
     Schreitet darauf immer tiefer

260
In die Tiefen von Manala,

Zieht die Harke nach der Länge,
Zieht sie darauf in die Quere,
Zieht sie drittens schräg durch’s Wasser,
Endlich bei dem dritten Male
Haftet eine große Garbe
In der Harke starkem Eisen.
     War jedoch nicht eine Garbe,
War der muntre Lemminkäinen,
Selbst der schöne Kaukomieli,

270
Festgeblieben in den Zähnen

Mit dem Finger ohne Namen
Mit des linken Fußes Zehe.
     Es erhob sich Lemminkäinen,
Er, der muntre Sohn Kalewa’s,
In der kupferreichen Harke
Auf des Meeres klarem Rücken;
Doch es fehlten manche Stücke,
Eine Hand, des Kopfes Hälfte,
Manche andre kleine Theile

280
Und zumal fehlt ihm das Leben.

Da nun dachte nach die Mutter,
Weinend sprach sie diese Worte:
„Soll hieraus ein Mann noch werden,
Soll ein neuer Held entstehen!“
     Hört ein Rabe diese Worte,
Giebt ihr Antwort solcher Weise:
„Ist kein Mann im Hingeschwundnen,
Nicht in dem Gekommnen einer,
Schnäpel fraßen längst die Augen,

290
Hechte spalteten die Schultern;

Wirf den Mann nur in die Fluthen,
In die Strömung von Tuonela,
Daß zur Robbe er dort werde,
Er zum Wallfisch dort gedeihe.“
     Doch die Mutter Lemminkäinen’s
Wirft den Sohn nicht in das Wasser,
Ziehet noch mit frischem Muthe
Durch das Wasser ihre Harke
Nach der Läng’ des Tuoniflusses,

300
Nach der Länge, nach der Breite,

Fängt die Hand, des Kopfes Hälfte,
Fängt des Rückenknochens Hälfte,
Fängt des Hüftbeins eine Seite,
Viele andre kleine Stücke,
Setzt daraus den Sohn zusammen,
Ihn, den muntern Lemminkäinen.
     Füget Fleisch dann zu dem Fleische,
Paßt die Knochen an einander,
Bindet ein Glied an das andre,

310
Drückt die Adern fest zusammen.

     Selber bindet sie die Adern,
Knüpft die Enden aller Adern,
Zählt die Fäden aller Adern,
Redet dabei solche Worte:
„Schlankgewachsne Aderjungfrau,
Suonetar, der Adern Gottheit,
Schöne Spinnerin der Adern,
Mit dem schlanken Spindelholze,
Mit dem kupferreichen Wertel,

320
Mit dem eisenreichen Rade;

Komm herbei, du bist von Nöthen,
Komm herbei, du wirst gerufen,
In dem Arm das Aderbündel,
Auf dem Schooß das Häutebündel,
Um die Adern fest zu binden,
Ihre Enden fest zu knüpfen
Bei den Wunden, die noch offen
Bei den aufgerissnen Löchern!“
     „Sollte das genug nicht scheinen,

330
Giebt es oben in den Lüften

In dem Kupferboot ein Mädchen,
In dem rothgestrichnen Nachen;

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_078.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)