Seite:Kalewala, das National-Epos der Finnen - 079.jpg

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Komm, o Jungfrau, aus den Lüften,
Mädchen von des Himmels Nabel,
Rudre durch die Adern, Mädchen,
Fahre heftig durch die Glieder,
Rudre durch der Knochen Höhlung
Mitten durch der Glieder Spalten!“
     „Leg die Adern an die Stelle,

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Bringe sie in ihre Lage,

Stopfe du die großen Adern,
Bring die Pulse an einander,
Dann vereinige die Sehnen
Und der kleinen Adern Enden!“
     „Nimm dir eine weiche Nadel,
Einen Seidenfaden drinnen,
Nähe mit der weichen Nadel,
Stopfe mit der Zinnesnadel,
Knüpf die Spitzen von den Adern

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Bind sie mit dem Seidenfaden!“

     „Sollte das genug nicht scheinen,
Selbst, o Gott, du Offenkund’ger,
Schirre deine raschen Füllen,
Rüste deine starken Renner,
Fahre her im bunten Schlitten
Durch die Knochen, durch die Glieder,
Durch das Fleisch, das sich beweget,
Fahre rauschend durch die Adern,
Bind das Fleisch fest an die Knochen,

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Bind die Adern an die Adern,

Senke Silber in die Fugen,
Gold du in die Aderspalten!“
     „Wo die Haut entzweigegangen,
Dort laß neue Haut entstehen,
Wo die Adern durchgerissen,
Binde du sie fest zusammen,
Wo das Blut davongeflossen,
Dort laß neues Blut du fließen,
Wo die Knochen sich zerschlagen,

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Dort laß neue Knochen wachsen,

Wo das Fleisch sich abgelöset,
Binde fest das Fleisch zusammen,
Banne es an seine Stelle,
Setze es in seine Lage,
Bein an Bein und Fleisch zum Fleische,
Füge Glieder an die Glieder!“
     Lemminkäinen’s Mutter brachte
So den Mann, den starken Helden,
Wiederum zu früherm Leben,

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Wieder zur Gestalt von früher.

     Festgeschlossen war’n die Adern,
Festgeknüpfet ihre Enden,
Doch der Mann konnt’ noch nicht sprechen,
Reden konnte nicht ihr Söhnlein.
     Redet Worte solcher Weise,
Ließ sich selber also hören:
„Woher Salbe nun erhalten,
Woher Honigtropfen holen,
Damit ich den Schwachen schmiere,

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Ihn, den Schlechtgefahrnen, heile,

Daß der Mann zum Sprechen komme,
Seinen Mund zu Liedern öffne?“
     „Bienchen, du, o Honigvöglein,
König du der Waldesblumen,
Gehe nun und hole Honig,
Schaff’ den süßen Seim zur Stelle
Aus Metsola voller Anmuth,
Aus dem klugen Tapiola,
Von dem Kelche mancher Blume,

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Aus der Faser manches Grases,

Daß ich seine Schmerzen stillen,
Ich das Übel heilen könne!“
     Bienchen, dieses flinke Vöglein,
Flieget rasch und flattert weiter
Nach Metsola voller Anmuth,
Nach dem klugen Tapiola;
Picket Blumen von der Wiese,
Kocht den Honig mit der Zunge
Aus der Spitze von sechs Blumen,

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Aus der Blüth’ von hundert Gräsern,

Kommet dann herangesummet,
Kommet rasch herbeigerollet,
Alle Flügel voll von Honig,
Voll von süßem Seim die Federn.
     Selber Lemminkäinen’s Mutter
Nahm behende diese Salben,

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 79. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_079.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)