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     Sprach die Mutter zu dem Sohne,
So die Alte zu dem Kinde:
„Gehe nicht, mein liebes Söhnchen,
Du, mein Söhnchen, lieber Kauko,
Zu dem Schmause von Pohjola,
Zum Gelag des großen Haufens,
Nicht gebeten bist du dorthin,
Keineswegs auch hingewünschet!
     Sprach der muntre Lemminkäinen

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Selber Worte solcher Weise:

„Eingeladen kommen Schlechte,
Ungebeten eilt der Gute;
Darin liegt beständ’ge Ladung,
Ist fortwährend eine Mahnung:
In dem Schwert mit Feuerschneide,
In der funkenreichen Klinge.“
     Sucht die Mutter Lemminkäinen’s
Immer noch ihn abzuhalten:
„Gehe doch nicht, liebes Söhnchen,

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Zu dem Schmause von Pohjola!

Reich an Schrecken ist die Straße,
Große Wunder auf dem Wege,
Dreimal droht der Tod dem Manne,
Dreimal drohet ihm Verderben.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Er, der schöne Kaukomieli:
„Immer sehn den Tod die Alten,
Überall sie nur Verderben,
Niemals wird der Mann sich fürchten,

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Nie so sehr in Acht sich nehmen;

Aber sei dem wie ihm wolle,
Sage mir, damit ich’s höre,
Was ist der Verderben erstes,
Was das erste, was das letzte?“
     Sprach die Mutter Lemminkäinen’s,
Gab zur Antwort so die Alte:
„Nach der Wahrheit werd’ ich sagen
Das Verderben, nicht nach Wunsche,
Sage der Verderben erstes,

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Dieses ist derselben erstes:

Bist ein wenig du gewandert,
Einen Tag du schon gereiset,
Kommet dir ein Strom voll Feuer
Auf des Weges Mitt’ entgegen,
In dem Strom ein Feuersprudel,
In der Mitt’ ein Feuerfelsen,
Auf dem Fels ein Feuerhügel,
Auf dem Holm ein Feueradler:
Wetzt die Nächte seine Zähne,

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Schärft bei Tage seine Klauen

Für die Fremden, die da kommen,
Für die Leute, die ihm nahen.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Er, der schöne Kaukomieli:
„Davon mögen Weiber sterben,
Nimmer ist’s ein Tod den Helden;
Weiß dagegen schon ein Mittel,
Einen guten Rath zu finden:
Zaubre mir ein Roß aus Erlen,

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Einen Helden mir aus Erlen,

Daß er mir zur Seite wandre,
Daß er vor mir kräftig schreite;
Selber tauche ich als Ente
In die Wogen rasch hinunter,
Unter jenes Adlers Klauen,
Unter dieses Vogels Krallen,
Mutter, die du mich getragen,
Sag’ das mittelste Verderben!“
     Sprach die Mutter Lemminkäinen’s:

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„Das ist der Verderben zweites:

Bist ein wenig du gewandert
In dem Lauf des zweiten Tages,
Kommet eine Feuergrube,
Lieget mitten dir im Wege,
Strecket weit sich hin nach Osten,
Ohne Ende hin nach Westen,
Vollgefüllt mit heißen Steinen,
Voll mit Blöcken, die da glühen;
Hundert sind dorthin gekommen,

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Tausend dort hineingezogen,

Hunderte mit ihren Schwertern,
Tausend eisenfeste Rosse.“
     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Er, der schöne Kaukomieli:

Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_161.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)