Seite:Kalewala, das National-Epos der Finnen - 184.jpg

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     Schwamm die Tage, schwamm die Nächte,
Steuerte mit allen Kräften,
Siehet da ein kleines Wölkchen,

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Eine Hängewolk’ im Westen,

Welche sich in Land verwandelt
Und zur Landzung’ sich gestaltet.
     Stieg an’s Land und ging zum Hause,
Fand die Wirthin dort beim Backen;
Ihre Töchter bei dem Kneten:
„O du Wirthin voller Güte,
Wenn du meinen Hunger sähest,
Meine Lage du erkenntest,
Eiltest du behend’ zur Kammer,

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Gar geschwind’ zum Biergemache,

Brächtest Bier mir eine Kanne,
Mir ein Stücklein Schweinefleisches,
Thätest dieses hin zu braten,
Schüttetst Butter auf das Stücklein,
Um den müden Mann zu speisen,
Um den Helden hier zu tränken;
Bin geschwommen Nächt’ und Tage
Auf des breiten Meeres Wogen,
Gleich als schützten mich die Winde,

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Liebten mich des Meeres Fluthen.“

     Ging die Wirthin voller Güte
Nach dem Vorrathshaus am Berge,
Schnitt sich Butter in der Kammer,
Holt’ ein Stücklein Schweinefleisches,
That das Stücklein hin zu braten,
Um den Hungrigen zu speisen,
Brachte Bier ihm in der Kanne
Um den müden Mann zu tränken;
Gab ihm einen neuen Nachen,

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Gab ein Boot, das ganz im Stande,

Daß der Mann von dannen ziehe,
Zu der Heimath Gränzen reise.
     Drauf gelangte Lemminkäinen
Zu der Heimath lieben Gränzen,
Sah das Land und sah die Ufer,
Sah die Inseln, sah die Sunde,
Sah die frühern Stapelplätze,
Sah die frühern Wohnungsstätten;
Sah den Berg mit seinen Tannen,

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Alle Hügel mit den Fichten,

Sah nur nicht die Stube stehen,
Nicht die Wände sich erheben;
Wo die Stube einst gestanden,
Hebt ein Faulbaumhain die Wipfel,
Tannen stehen auf dem Hausberg
Und Wachholder hin zum Brunnen.
     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Er, der schöne Kaukomieli:
„Hab’ in diesem Hain gespielet,

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Auf den Steinen mich geschaukelt,

Auf dem Rasen mich gerollet,
Mich gewälzt am Ackersaume,
Wer entführte denn die Stube,
Wer zerbrach das schöne Dächlein?
Nieder brannte man die Stube,
Und der Wind entführt’ die Asche.“
     Da begann er sehr zu weinen,
Weinte einen Tag, den zweiten,
Weinte nicht um seine Stube,

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Jammert’ nicht um seine Kammer,

Weinte um der Stube Lieben,
Um die Theuren in der Kammer.
     Sieht da einen Vogel fliegen,
Einen Adler sich bewegen,
Wendet fragend sich an diesen:
„Adler, du mein lieber Vogel,
Könntest du es mir nicht sagen,
Wo die Mutter wohl geblieben,
Sie, die mich mit Schmerz getragen,

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Die mit Wonne mich gesäuget?“

     Gar nichts wußte dieser Adler,
Wußte nichts der dumme Vogel,
Wußte nur, daß man gestorben,
Und der Rab’, daß man vernichtet,
Durch das Schwert davongetrieben,
Mit dem Beile man getödtet.
     Sprach der muntre Lemminkäinen,
Er, der schöne Kaukomieli:
„Theure, die du mich getragen,

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Schöne, die du mich gesäuget!
Empfohlene Zitierweise:
Elias Lönnrot, Anton Schiefner (Übers.): Kalewala, das National-Epos der Finnen. Helsingfors: J. E. Frenckell & Sohn, 1852, Seite 184. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kalewala,_das_National-Epos_der_Finnen_-_184.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)