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Voltaire: Kandide. Erster Theil

Kandiden war bei dem Beschauen dieser Meisterwerke ganz wunderbar zu Mute;

Sein Busen war so voll und bang
Von hundert Welten trächtig;

sein ganzes Wesen schien in einem Meer von Entzükken aufgelöst. Endlich rief er: Von welchem Meister? Und deutete auf ein Paar Gemälde, woran er sich am meisten ergezt, an welchen sein Auge noch mit unbeschreiblicher Bewundrung und liebewarm hing.

Vom Raphael, sagte der Senator. Ich war solcher alter Gek und kaufte sie vor etlichen Jahren rasendtheuer; lies mich dazu beschwazen, weil man mir versicherte: Schönre Werke der Kunst gäb’s in ganz Italien nicht; ich kann aber nicht sagen, daß sie mir anstünden. Die Farben sind zu dunkel gehalten; die Figuren haben nicht Ründung, nicht Hervorspringendes genug, die Drapperien nichts weniger, als Ähnlichkeit mit Gewändern. Mit Einem Worte, was man auch drüber trätscht, treukopirte Natur find’ ich gar nicht drinne. Natur, Natur, die liebe Natur verlang’ ich ohn’ alle Ziererei so wie allenthalben, auch in Gemälden; aber wo gäb’s solche Gemälde? Ich habe Klekkereien und Sudeleien die Menge, mag sie aber gar nicht mehr ansehn.

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Voltaire: Kandide. Erster Theil. Berlin: Christian Friedrich Himburg.: , 1782, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kandide_(Voltaire)_162.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)