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134 Elementarl. II. Th. I. Abth. II.Buch. 134

Richter, oder ein Staatskundiger kan viel schöne pathologische, iuristische oder politische Regeln im Kopfe haben, in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kan, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstossen, entweder, weil es ihm an natürlicher Urtheilskraft (obgleich nicht am Verstande) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kan, oder auch darum, weil er nicht genug durch Beyspiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urtheile abgerichtet worden. Dieses ist auch der einige und grosse Nutzen der Beyspiele: daß sie die Urtheilskraft schärfen. Denn was die Richtigkeit und Präcision der Verstandeseinsicht betrift, so thun sie derselben vielmehr gemeiniglich einigen Abbruch, weil sie nur selten die Bedingung der Regel adäquat erfüllen, (als casus in terminis) und überdem dieienige Anstrengung des Verstandes oftmals schwächen, Regeln im Allgemeinen, und unabhängig von den besonderen Umständen der Erfahrung, nach ihrer Zulänglichkeit, einzusehen, und sie daher zulezt mehr wie Formeln, als Grundsätze zu gebrauchen angewöhnen. So sind Beyspiele der Gängelwagen der Urtheilskraft, welchen derienige, dem es am natürlichen Talent desselben mangelt, niemals entbehren kan.

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Ob

    (der secunda Petri) zu fehlen pflegt, so ist es nichts ungewöhnliches, sehr gelehrte Männer anzutreffen, die, im Gebrauche ihrer Wissenschaft, ienen nie zu bessernden Mangel häufig blicken lassen.

Empfohlene Zitierweise:
Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 134. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_134.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)