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555 IX. Absch. Vom empir. Gebrauche des regul. etc. 555

die Handlung dadurch bestimt zu seyn glaubt: so tadelt man nichts destoweniger den Thäter und zwar nicht wegen seines unglücklichen Naturels, nicht wegen der auf ihn einfliessenden Umstände, ia so gar nicht wegen seines vorhergeführten Lebenswandels, denn man sezt voraus, man könne es gänzlich bey Seite setzen, wie dieser beschaffen gewesen, und die verflossene Reihe von Bedingungen als ungeschehen, diese That aber als gänzlich unbedingt in Ansehung des vorigen Zustandes ansehen, als ob der Thäter damit eine Reihe von Folgen ganz von selbst anhebe. Dieser Tadel gründet sich auf ein Gesetz der Vernunft, wobey man diese als eine Ursache ansieht, welche das Verhalten des Menschen, unangesehen aller genanten empirischen Bedingungen, anders habe bestimmen können und sollen. Und zwar siehet man die Caussalität der Vernunft nicht etwa blos wie Concurrenz, sondern an sich selbst als vollständig an, wenn gleich die sinnliche Triebfedern gar nicht davor, sondern wol gar dawider wären; die Handlung wird seinem intelligibelen Character beygemessen, er hat iezt, in dem Augenblicke, da er lügt, gänzlich Schuld; mithin war die Vernunft, unerachtet aller empirischen Bedingungen der That, völlig frey und ihrer Unterlassung ist diese gänzlich beizumessen.

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 Man siehet diesem zurechnenden Urtheile es leicht an: daß man dabey in Gedanken habe, die Vernunft werde durch alle iene Sinnlichkeit gar nicht afficirt, sie verändere sich nicht (wenn gleich ihre Erscheinungen, nemlich

lich
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 555. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_555.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)