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569 I. Absch. Von dem Ideal überhaupt. 569

 Ohne uns aber so weit zu versteigen, müssen wir gestehen: daß die menschliche Vernunft nicht allein Ideen, sondern auch Ideale enthalte, die zwar nicht, wie die platonische, schöpferische, aber doch practische Kraft (als regulative Principien) haben, und der Möglichkeit der Vollkommenheit gewisser Handlungen zum Grunde liegen. Moralische Begriffe sind nicht gänzlich reine Vernunftbegriffe, weil ihnen etwas Empirisches (Lust oder Unlust) zum Grunde liegt. Gleichwol können sie in Ansehung des Princips, wodurch die Vernunft der an sich gesetzlosen Freiheit Schranken sezt, (also wenn man blos auf ihre Form Acht hat) gar wol zum Beispiele reiner Vernunftbegriffe dienen. Tugend und, mit ihr, menschliche Weisheit in ihrer ganzen Reinigkeit, sind Ideen. Aber der Weise (des Stoikers) ist ein Ideal, d. i. ein Mensch der blos in Gedanken existirt, der aber mit der Idee der Weisheit völlig congruiret. So wie die Idee die Regel giebt, so dient das Ideal in solchem Falle zum Urbilde der durchgängigen Bestimmung des Nachbildes und wir haben kein anderes Richtmaaß unserer Handlungen, als das Verhalten dieses göttlichen Menschen in uns, womit wir uns vergleichen, beurtheilen und dadurch uns bessern, obgleich es niemals erreichen können. Diese Ideale, ob man ihnen gleich nicht obiective Realität (Existenz) zugestehen möchte, sind doch um deswillen nicht vor Hirngespinste anzusehen, sondern geben ein unentbehrliches Richtmaaß der Vernunft ab, die des Begriffs von dem, was

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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 569. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_569.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)