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630 Elementarl. II. Th. II. Abth. II. Buch. III. Hauptst. 630

Boden der Natur und Erfahrung fortgegangen sind und sich gleichwol immer noch eben so weit von dem Gegenstande sehen, der ihrer Vernunft entgegen scheint, sie plötzlich diesen Boden verlassen und ins Reich blosser Möglichkeiten übergehen, wo sie auf den Flügeln der Ideen demienigen nahe zu kommen hoffen, was sich aller ihrer empirischen Nachsuchung entzogen hatte. Nachdem sie endlich durch einen so mächtigen Sprung festen Fuß gefaßt zu haben vermeinen, so verbreiten sie den nunmehr bestimten Begriff (in dessen Besitz sie, ohne zu wissen wie, gekommen sind), über das ganze Feld der Schöpfung und erläutern das Ideal, welches lediglich ein Product der reinen Vernunft war, obzwar kümmerlich gnug und weit unter der Würde seines Gegenstandes, durch Erfahrung, ohne doch gestehen zu wollen, daß sie zu dieser Kentniß oder Voraussetzung durch einen anderen Fußsteig, als den der Erfahrung, gelanget sind.

 So liegt demnach dem physicotheologischen Beweise der cosmologische, diesem aber der ontologische Beweis, vom Daseyn eines einigen Urwesens als höchsten Wesens, zum Grunde und, da ausser diesen dreien Wegen keiner mehr der speculativen Vernunft offen ist: so ist der ontologische Beweis, aus lauter reinen Vernunftbegriffen, der einzige mögliche, wenn überall nur ein Beweis, von einem so weit über allen empirischen Verstandesgebrauch erhabenen Satze, möglich ist.


Des
Empfohlene Zitierweise:
Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 630. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_630.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)