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689 VII. Absch. Critik aller speculativen Theologie. 689

 Gehen wir aber von dieser Restriction der Idee auf den blos regulativen Gebrauch ab, so wird die Vernunft auf so mancherley Weise irre geführt, indem sie alsdenn den Boden der Erfahrung, der doch die Merkzeichen ihres Ganges enthalten muß, verläßt, und sich über denselben zu dem Unbegreiflichen und unerforschlichen hinwagt, über dessen Höhe sie nothwendig schwindlicht wird, weil sie sich aus dem Standpuncte desselben von allem mit der Erfahrung stimmigen Gebrauch gänzlich abgeschnitten sieht.

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 Der erste Fehler, der daraus entspringt, daß man die Idee eines höchsten Wesens nicht blos regulativ, sondern (welches der Natur einer Idee zuwider ist) constitutiv braucht, ist die faule Vernunft (ignaua ratio[1]). Man kan ieden Grundsatz so nennen, welcher macht, daß man seine Naturuntersuchung, wo es auch sey, vor

schlecht-

  1. So nanten die alten Dialectiker einen Trugschluß, der so lautete: Wenn es dein Schicksal mit sich bringt, du solst von dieser Krankheit genesen, so wird es geschehen, du magst einen Arzt brauchen, oder nicht. Cicero sagt: daß diese Art zu schliessen ihren Namen daher habe, daß, wenn man ihr folgt, gar kein Gebrauch der Vernunft im Leben übrig bleibe. Dieses ist die Ursache, warum ich das sophistische Argument der reinen Vernunft mit demselben Nahmen belege.
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 689. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_689.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)