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740 Methodenlehre I. Hauptst. II. Absch. 740

nur mit grösserem Scheine) behaupten könne. Denn wir sind alsdenn doch nicht bittweise in unserem Besitz, wenn wir einen, obzwar nicht hinreichenden Titel derselben vor uns haben und es völlig gewiß ist, daß niemand die Unrechtmässigkeit dieses Besitzes iemals beweisen könne.

 Es ist etwas Bekümmerndes und Niederschlagendes: daß es überhaupt eine Antithetik der reinen Vernunft geben, und diese, die doch den obersten Gerichtshof über alle Streitigkeiten vorstellt, mit sich selbst in Streit gerathen soll. Zwar hatten wir oben eine solche scheinbare Antithetik derselben vor uns, aber es zeigte sich, daß sie auf einem Mißverstande beruhete, da man nemlich, dem gemeinen Vorurtheile gemäß, Erscheinungen vor Sachen an sich selbst nahm und denn eine absolute Vollständigkeit ihrer Synthesis, auf eine oder andere Art (die aber auf beiderley Art gleich unmöglich war), verlangte, welches aber von Erscheinungen gar nicht erwartet werden kan. Es war also damals kein wirklicher Widerspruch der Vernunft mit ihr selbst bey den Sätzen: die Reihe an sich gegebener Erscheinungen hat einen absolutersten Anfang und: diese Reihe ist schlechthin und an sich selbst ohne allen Anfang; denn beide Sätze bestehen gar wol zusammen, weil Erscheinungen nach ihrem Daseyn (als Erscheinungen) an sich selbst gar nichts, d. i. etwas widersprechendes sind und also deren Voraussetzung natürlicher Weise widersprechende Folgerungen nach sich ziehen muß.

Ein
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Immanuel Kant: Critik der reinen Vernunft (1781). Johann Friedrich Hartknoch, Riga 1781, Seite 740. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kant_Critik_der_reinen_Vernunft_740.png&oldid=- (Version vom 18.8.2016)