Seite:Kapp, Aus und über Amerika, Band 1, S 367.png

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Friedrich Kapp: Reinhold Solger. In: Aus und über Amerika, Band 1

waren noch nie von einem ihrer Landsleute, geschweige denn von einem Ausländer die Errungenschaften deutscher Philosophie und historischer Forschung und Kritik in einer so fesselnden Form dargelegt worden. Außer diesen Thematen las er über Ethnographie, vergleichendes Staatsrecht und einzelne Fragen der Tagesgeschichte, wie z. B. 1854 und 1855 über den Krimkrieg. Er wandte sich vor Allem an die hiesigen Träger idealen Strebens und freierer Bildung, die Geistlichen der aufgeklärten Sekten, durch welche seine Lehren in die weitesten Kreise drangen. Die Vereinigten Staaten stehen in dieser Beziehung noch auf dem Standpunkte, welchen Deutschland vor zweihundert Jahren einnahm, als die Land-Pastoren die Stützen der Literatur waren. Solger’s wissenschaftliche Vorlesungen zählten selten mehr als 60–100 Zuhörer, allein unter diesen befanden sich stets die geistigen Kapazitäten des betreffenden Ortes. Wenn er z. B. in Cambridge las, so waren die Professoren des Harvard College, ihren Präsidenten an der Spitze, seine begeisterten Zuhörer. „Ich habe erst aus des Doktors Vorlesung gelernt, was die römische Geschichte ist und bedeutet“, sagte mir, am Schlusse eines seiner Vorträge über das sinkende Römerreich, der Präsident einer höhern New-Yorker Unterrichtsanstalt, der selbst zehn Jahre lang römische Geschichte gelehrt hatte. Ein nicht geringer anzuschlagendes Verdienst erwarb sich Solger endlich dadurch, daß er den Amerikanern den Entwicklungsgang und die Ziele der deutschen philosophischen Bewegung klar machte, daß er an den Protestantismus, als den ersten Anfang modernen, freien Denkens die geistige Entwickelung Europa’s anknüpfend, die Eroberungen und den Siegeszug des freien Gedankens in den deutschen philosophischen Schulen nachwies und die Befreiung und sittliche Autonomie des Individuums als den mehr denn gleichberechtigten Faktor neben die äußerliche politische Freiheit Amerika’s stellte. In Boston wurde ihm die seltene Ehre zu Theil, daß er zwei Winter hinter einander eine Reihe von Vorlesungen in dem sog. Lowell Course hielt. Sein letztes öffentliches Auftreten daselbst fand beim Ausbruch der Rebellion im Frühjahr 1861 statt. Er redete nämlich in Theodor Parker’s Kirche und zu dessen Gemeinde, verglich die Erhebung des amerikanischen Volkes mit derjenigen des preußischen von 1813 und entrollte seinen Zuhörern in mächtigen Zügen das Bild eines großartigen Volkskrieges.


Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Kapp: Reinhold Solger. In: Aus und über Amerika, Band 1. Verlag von Julius Springer, Berlin 1876, Seite 367. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kapp,_Aus_und_%C3%BCber_Amerika,_Band_1,_S_367.png&oldid=- (Version vom 3.10.2018)