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Friedrich Kapp: Reinhold Solger. In: Aus und über Amerika, Band 1

des menschlichen Geschlechts zum ersten Mal ernstlich durch die Dichtkunst versucht haben, wie sie an Spinoza anknüpfend und in Kant sich vertiefend, durch das Studium der Naturwissenschaften und der Geschichte hindurchgehen, die ästhetische Bildung des Menschen als ihre Aufgabe erkannt und für die deutsche Poesie dem Durcheinander religiöser, sittlicher und wissenschaftlicher Instinkte gegenüber den Standpunkt genommen haben, wo all dieses chaotische Gewirr sich in göttliche Harmonien auflöst. Grade auf diesen philosophischen Geist der deutschen Literatur legt Solger seinen amerikanischen Zuhörern gegenüber mit Recht das Hauptgewicht, hier wo selbst die angeblich Gebildeten häufig nicht anstehen, die deutsche Philosophie für Tollheit zu erklären. Ich kann mir nicht versagen, wenigstens die Schlußsätze der Solger’schen Rede wiederzugeben:

„Man wirft sich jedem neuen Reformator der Gesellschaft, jedem Propheten, jedem Wunderdoktor an den Hals, – man beschwört Geister! – alles aus der Angst nach dem Gott, den Wissenschaft und Leben verloren haben, und den die Theologie, jene Philosophie der Vergangenheit, nicht wieder finden kann.

Alles das ist Flickwerk. Was uns fehlt ist eine Ueberzeugung, welche fähig ist, jede Faser, jeden Nerv unsrer heutigen Kultur, mit Einem Lebenspulse zu durchdringen; eine Ueberzeugung, welche sich nicht jedesmal zu schämen braucht, wenn sie der Wissenschaft unter die Augen tritt, noch sich jedesmal zu entschuldigen braucht, wenn sie Gott unter die Augen tritt. Solche Ueberzeugung gibt es in diesem Augenblicke nicht. Wissen Sie, woran noch alle Nationen zu Grunde gegangen sind? Daran, daß sie an der Aufgabe erlahmten, den Idealismus des Herzens mit den Thatsachen eines verständiger gewordenen Lebens und einer fortgeschrittenen Wissenschaft zu versöhnen. Dadurch spalteten sich die Ernsteren in zwei fanatische Parteien, der Altgläubigen und Atheisten, während die große Masse täglich gleichgültiger, täglich frivoler wurde. Alle Völker sind an der innerlichen Indifferenz ihrer Ueberzeugungen zu Grunde gegangen. Kein Volk hat je als durch einheitliche Ueberzeugung geblüht. In der Jugend der Völker ist diese Ueberzeugung naiv. Aber es kommt die Zeit, und sie ist jetzt da, wo sie durch den Zwiespalt zwischen Wissen und Glauben hindurch sich zur bewußten


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Friedrich Kapp: Reinhold Solger. In: Aus und über Amerika, Band 1. Verlag von Julius Springer, Berlin 1876, Seite 372. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kapp,_Aus_und_%C3%BCber_Amerika,_Band_1,_S_372.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)