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W. Kaufmann (Göttingen), Die Entwicklung des Elektronenbegriffs.

Meine Herren! Es ist eine nicht ungewöhnliche Erscheinung in der Geschichte der Wissenschaft, dass Anschauungen, die längst für veraltet und überwunden galten, plötzlich, wenn auch in mehr oder weniger modifizierter Form, wieder zu Ansehen gelangen. Ein äusserst interessantes Beispiel für diese Erscheinung bietet die im Laufe des letzten Jahrzehnts eingetretene Umwälzung unserer Anschauungen über die elektrischen Vorgänge, über die zu berichten ich heute die Ehre habe.

Die moderne Theorie der elektrischen und der damit eng verknüpften optischen Erscheinungen, die man unter dem Namen der Elektronentheorie zusammenfassen kann, bedeutet gewissermassen eine Rückkehr zu Anschauungen, wie sie in den 60er und 70er Jahren des vergangenen 19. Jahrhunderts von Wilhelm Weber und von Zöllner ausgesprochen worden sind, – modifiziert durch die Ergebnisse der Maxwellschen und Hertzschen Forschungen. W. Weber fasste die elektrischen Erscheinungen auf als die Wirkung elementarer elektrischer Teilchen, sogen. elektrischer Atome[1], deren gegenseitige Einwirkung ausser von ihrer Lage auch von ihren relativen Geschwindigkeiten und Beschleunigungen abhinge.

Wenn es nun auch Weber gelang, mittels seiner Annahme die damals bekannten elektro-dynamischen Vorgänge völlig zu beschreiben und sogar eine qualitativ ganz brauchbare Erklärung für die Proportionalität zwischen elektrischer und Wärmeleitung in Metallen, sowie für die Ampèreschen Molekularströme in Magneten zu geben, so war doch seine Theorie weit entfernt davon, Gemeingut der damaligen Physiker zu werden. Der Grund für diesen negativen Erfolg mag wohl in der Thatsache zu suchen sein, dass die meisten Gesetze der Elektrodynamik rein phänomenologisch, in Form von Differentialgleichungen ausgesprochen, sich als viel bequemer und einfacher erwiesen, als die Weberschen Formeln. Hierzu kommt noch, dass Weber gar keinen Versuch macht, die Grösse der von ihm supponierten elektrischen Atome irgendwie zu berechnen und das Rechnungsergebnis durch Anwendung auf andere molekulare Vorgänge zu prüfen. Endlich aber kam hinzu, dass man auf Grund der Arbeiten Faradays und Maxwells schliesslich allgemein zu der Überzeugung gelangte, dass bei den elektrischen und magnetischen Vorgängen an Stelle der unmittelbaren Fernwirkung eine zeitliche Fortpflanzung zu treten habe, eine Forderung, die übrigens Gauss schon 1845 in einem Briefe an Weber stellte, die aber durch das Webersche Gesetz nicht erfüllt wurde. Die bereits in den Jahren 1861–62 entstandenen Abhandlungen Maxwells, die er dann 1873


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Walter Kaufmann: Die Entwicklung des Elektronenbegriffs. S. Hirzel, Leipzig 1901, Seite 9. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kaufmann_Entwicklung_Elektronenbegriffs_1901.pdf/1&oldid=- (Version vom 20.8.2021)