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in seinem berühmten „Lehrbuch der Elektrizität und des Magnetismus“ zusammenfasste, sowie die glänzende experimentelle Bestätigung der Maxwellschen Resultate durch H. Hertz vom Jahre 1887 an, schienen geeignet, den Weberschen Anschauungen auch den letzten Rest von Daseinsberechtigung zu nehmen.

In der That stellten die Maxwellschen Formeln, denen ja atomistische Begriffe gänzlich fehlen, die elektrischen Fundamentalerscheinungen ebenso gut dar, wie die älteren, auf Fernwirkung aufgebauten, und die neuentdeckten Hertzschen elektrischen Wellen konnten überhaupt nur durch die Maxwellsche Theorie dargestellt werden.

Es scheint, als ob dieser glänzende Erfolg anfangs die Forscher blind gemacht habe gegen die Unzulänglichkeit der Maxwellschen Theorie den feineren optischen Erscheinungen gegenüber. Nach Maxwell sollten die Lichtschwingungen ja nicht mechanische Schwingungen des Äthers, sondern elektrische Schwingungen sein, und die beiden Konstanten, durch die Maxwell das elektrische und magnetische Verhalten jedes Körpers definierte (die Dielektrizitätskonstante und die Magnetisierungskonstante), mussten auch für sein Lichtbrechungsvermögen massgebend sein. Wenn nun auch die von Maxwell geforderte Beziehung – dass nämlich der optische Brechungsexponent gleich der Quadratwurzel der Dielektrizitätskonstante sein solle – bei manchen Körpern leidlich erfüllt war, so zeigten doch andererseits viele Körper, z. B. das Wasser, so ungeheure Abweichungen, dass sich schon daraus die Theorie in ihrer ursprünglichen Gestalt als ungenügend erweisen musste. Hierzu kam noch die Abhängigkeit des Brechungsexponenten von der Farbe, für welche die ursprüngliche Theorie gar keine Erklärung gab.

Nun hatte nach einem ersten noch ungenügenden Versuch Sellmeiers[1] im Jahre 1874 H. v. Helmholtz[2] eine mechanische Theorie der Farbenzerstreuung aufgestellt, deren Grundlage darin besteht, dass den körperlichen Molekülen gewisse Eigenschwingungen zukommen.

Bereits im Jahre 1880, also zu einer Zeit, wo man in Deutschland noch kaum an die Maxwellsche elektromagnetische Lichttheorie glaubte, zeigte H. A. Lorentz[3], dass man die Grundlagen zu einer elektromagnetischen Dispersionstheorie ganz analog der früheren mechanischen Theorie erhalten könne, wenn man jedes Molekül als Ausgangspunkt elektrischer Schwingungen bestimmter Periode ansehe. Es heisst dort: „Es mögen sich in einem jeden Körperteilchen mehrere mit Elektrizität geladene materielle Punkte befinden, von denen jedoch nur einer mit der Ladung und der Masse beweglich sei.“ Mit Hilfe dieser Grundannahme schwingungsfähiger geladener Teilchen leitet H. A. Lorentz dann die Dispersionsgleichungen ab.

Die nächste Frage ist nunmehr: Wie kommen wir dazu, in einem jeden durchsichtigen Körper das Vorhandensein elektrischer Teilchen anzunehmen? Die Antwort giebt uns ein Erscheinungsgebiet, das ebenfalls in die Maxwellsche Theorie nur schwer hineinpassen wollte und deshalb fast stets nach der alten Anschauungsweise behandelt wurde. Ich meine die Vorgänge bei der Elektrolyse. Wenn der elektrische Strom einen Elektrolyten durchfliesst, so werden nach dem Faradayschen Gesetz von jeder Stromeinheit chemisch äquivalente Mengen an den Elektroden ausgeschieden; man kann also den Vorgang so auffassen, als wenn jede chemische Valenz eines jeden im Elektrolyten wandernden Ions mit einer ganz bestimmten unveränderlichen positiven oder negativen Elektrizitätsmenge verbunden sei.

In einer zum Gedächtnis M. Faradays im Jahre 1881 gehaltenen Rede weist nun H. v. Helmholtz[4] darauf hin, dass wir aus dem Faradayschen Gesetz mit Notwendigkeit auf die Existenz elektrischer Atome schliessen müssen. Da nämlich die geladenen chemischen Atome, von Faraday als Ionen – d. h. die Wandernden – bezeichnet, an den Elektroden als neutrale Körper ausgeschieden werden, so muss dort eine Abgabe der Ladungen oder ein teilweiser Austausch gegen Ladungen entgegengesetzten Vorzeichens stattfinden. Während dieses Vorgangs, der ja nicht momentan stattfinden kann, müssen also die Ladungen, wenigstens für eine kurze Zeit, eine selbständige Existenz führen können; was liegt näher, als diese stets gleiche Ladungseinheit einer Valenz als ein Elementarquantum der Elektrizität, als ein elektrisches Atom zu betrachten. Und wenn ein neutrales Molekül, etwa NaCl (Chlornatrium) beim Auflösen in Wasser in + geladenes Na und − geladenes Cl zerfällt, so ist das Wahrscheinlichste, dass das Na- und das Cl-Atom jedes seine Ladung schon vorher hatte, und dass diese Ladungen nach aussen bloss deshalb unbemerkbar blieben, weil + und − Ladung gleich gross waren. Denkt man sich nun aber einen Lichtstrahl einen NaCl-Krystall durchsetzend, so müssen die Ladungen resp. die mit ihnen verbundenen Atome in Schwingungen geraten und die Lichtbewegung beeinflussen. Die elektrolytischen Valenzladungen sind es also, die wir als die in den


  1. Pogg. Ann. 145, 399 u. 520; 147, 386 u. 525, 1872.
  2. Berl. Ber. 1874. 667. Pogg. Ann. 154.
  3. Verhandl.-Akad. v. Wetensch., Amsterdam, 18. Wied. Ann. 9, 641, 1880.
  4. Journ. chem. Soc. Juni 1881. Vortr. u. Reden 2, 275.
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Walter Kaufmann: Die Entwicklung des Elektronenbegriffs. S. Hirzel, Leipzig 1901, Seite 10. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kaufmann_Entwicklung_Elektronenbegriffs_1901.pdf/2&oldid=- (Version vom 20.8.2021)