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Die Untersuchungen von E. Wiechert,[1] W. Kaufmann und E. Aschkinass,[2] W. Kaufmann,[3] J. J. Thomson,[4] W. Wien,[5] Ph. Lenard,[6] Th. Des Coudres[7] ergaben übereinstimmend, dass es nur einer Umänderung der Crookesschen Hypothese bedürfe, um zu einer widerspruchsfreien Erklärung fast aller Erscheinungen zu gelangen: Man braucht die Kathodenstrahlen bloss als geladene Massenteilchen zu betrachten, die viel kleiner sind, als die gewöhnlichen Atome. Eine ganze Reihe von messbaren Eigenschaften der Kathodenstrahlen ermöglicht es zu bestimmen, wie gross bei diesen Teilchen die Ladung pro Grammmasse ist. Das Resultat war zwar bei verschiedenen Beobachtern etwas verschieden, es schwankt zwischen 7 und 19 Millionen El. M. Einheiten pro Gramm; jedenfalls aber liegen diese Zahlen den beim Zeemaneffekt gefundenen so nahe, dass man unbedingt der zuerst wohl von E. Wiechert[8] ausgesprochenen Hypothese beistimmen kann, dass wir es in beiden Fällen mit denselben Teilchen, nämlich den Elektronen, zu thun haben: Wir haben also in den Kathodenstrahlen die Elektronen, die in den optischen Erscheinungen ein ziemlich verborgenes Dasein führen, sozusagen leibhaftig vor uns.

In einfacher Weise liessen sich jetzt eine Reihe von Folgeerscheinungen erklären. Ein solches mit ungeheurer Geschwindigkeit, nach direkten Messungen Wiecherts,[9] je nach der angewandten Kraft mit 1/5 bis 1/3 der Lichtgeschwindigkeit, fliegendes Elektron, muss, wenn es auf einen festen Körper aufprallt, notwendig eine explosionsartige elektrische Welle in den Raum hinaussenden, genau wie ein aufschlagendes Projektil eine Schallwelle; wir haben triftige Gründe zu der Annahme, dass die Röntgenstrahlen solche Wellen seien. Weiter: wenn die Elektronen aus der Oberfläche der Kathode herausfliegen, so müssen sie auch schon in ihrem Innern sich an die Oberfläche heranbewegt haben; d. h. die elektrische Leitung im Metalle besteht wohl auch in einer Wanderung von Elektronen. Während also im flüssigen Elektrolyten das Elektron stets an ein materielles Atom gebunden als „Ion“ erscheint, haben wir es im Metall mit frei wandernden Elektronen zu thun. Diese Elektronentheorie der Metalle, als deren ersten Urheber wir ja auch schon W. Weber zu betrachten haben, ist neuerdings durch E. Riecke[10] und P. Drude[11] mathematisch so weit durchgearbeitet worden, dass sie eine Prüfung an Hand der Erfahrung gestattet; es ergab sich namentlich für das Verhältnis zwischen elektrischer und Wärmeleitung der Metalle eine Zahl, die mit den Beobachtungen auf wenige Prozent genau übereinstimmt; auch das optische Verhalten der Metalle scheint, soweit die Beobachtungen reichen, mit dieser Theorie in guter Übereinstimmung zu stehen; und von Ph. Lenard[12] ist gezeigt worden, dass durch Bestrahlung einer Metallfläche mit ultraviolettem Lichte die Elektronen des Metalles in so starkes Mitschwingen versetzt werden können, dass sie mit grosser Geschwindigkeit von der Oberfläche fortfliegen und dann ein ganz ähnliches Verhalten zeigen, wie die gewöhnlichen, durch Entladungen erzeugten Kathodenstrahlen.[13]

Betrachten wir endlich die Leitung in einem beliebigen Gase, das wir durch Bestrahlung mit Röntgenstrahlen oder ultraviolettem Licht, oder auch durch starke Erhitzung leitend gemacht haben, so zeigt sich auch hier, dass eine einwandfreie Erklärung der zahlenmässigen Resultate, wie sie namentlich von J. J. Thomson und seinen Schülern erhalten worden sind, nur unter der Annahme wandernder Teilchen im Gase möglich ist; aus gewissen Unterschieden im Verhalten der positiven und negativen Teilchen bei diesen Vorgängen scheint hervorzugehen, dass die negativen Teilchen hauptsächlich freie Elektronen sind, von denen jedoch die meisten nach kurzer Wanderung von Gasmolekülen aufgefangen werden, und durch diese beschwert, einen grossen Teil ihrer ursprünglichen Beweglichkeit verlieren. Die positiven Teilchen bestehen dann aus dem nach Abspaltung eines negativen Elektrons vom Molekül noch übrig bleibenden Rest. Die soeben skizzierte Anschauungsweise beseitigt völlig einen Einwand, durch den man früher manchmal die Ionentheorie der leitenden Gase zu widerlegen glaubte. Wie kann, so sagte man, ein einatomiges Gas, wie z. B. Quecksilberdampf, sich in Ionen dissoziieren? In elektrolytische Ionen allerdings nicht, wohl aber in ein positiv geladenes Atom und ein negatives Elektron. Beide zusammen bilden erst das neutrale einatomige Molekül. Durch Beobachtung leitender Gase ist es sogar J. J.


  1. Sitz.-Ber. phys. ökon. Gesellsch. Königsberg 1897. S. 1; Naturwiss. Rundsch. Mai 1897; Gött. gel. Nachr. 1898. S. 260.
  2. Wied. Ann. 62, 588, 1897.
  3. Wied. Ann. 61, 544, 1897; 62, 596, 1897; 65, 431, 1898; 66, 649, 1898.
  4. Phil. Mag. (5) 44, 293, 1897.
  5. Verhdl. physik. Ges. Berlin 16, 165, 1897.
  6. Wied. Ann. 64, 279, 1898; 65, 504, 1898.
  7. Verhdl. physik. Ges. Berl. 17, 17, 1898.
  8. Göttinger Nachrichten 1898. S. 1.
  9. Göttinger Nachrichten 1898. S. 260.
  10. Wied. Ann. 66, 353, 545, 1199, 1898.
  11. Ann. der Physik 1, 566, 1900; 3, 369, 1900.
  12. Wiener Ber. 108 (IIa), 1649, 1899.
  13. Über ein ganz analoges Phänomen bei Bestrahlung einer Metallfläche mit Röntgenstrahlen von E. Dorn, Arch. néerl. 1900, S. 595 (Lorentz, Jubelband).
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Walter Kaufmann: Die Entwicklung des Elektronenbegriffs. S. Hirzel, Leipzig 1901, Seite 13. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kaufmann_Entwicklung_Elektronenbegriffs_1901.pdf/5&oldid=- (Version vom 20.8.2021)