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Thomson[1] gelungen, die absolute Grösse der Ladung eines einzelnen Ions[WS 1] direkt zu messen, wobei sich eine ganz gute Übereinstimmung mit dem früher besprochenen Werte des Elementarquantums ergab. Fügen wir noch hinzu, dass neuerdings noch auf einem dritten, völlig unabhängigen Wege, aus den Strahlungsgesetzen des sogen. „schwarzen Körpers“ von M. Planck[2] ein nahezu gleichgrosser Wert des Elektrons gefunden worden ist.

Überall also, in sämtlichen Aggregatzuständen, spielen die Elektronen bei den elektrischen und optischen Vorgängen ihre wichtige Rolle; sie sind die kleinsten bisher bekannten Bestandteile unserer sichtbaren Welt; ihr Auftreten auch bei Abwesenheit äusserer elektrischer oder optischer Einwirkungen, d. h. der direkte Nachweis ihrer ständigen Existenz, würde gleichsam den Schlussstein in dem logischen Gebäude bilden, dessen Entstehung ich versucht habe, vor Ihnen aufzuführen; auch nach diesem Schlussstein brauchen wir nicht lange zu suchen:

Kurz nach der Entdeckung der Röntgenschen X-Strahlen fand Becquerel,[3] dass Uranverbindungen dauernd, ohne äussere Einwirkung, eine Strahlenart aussenden, die mit den Röntgenstrahlen grosse Ähnlichkeit hat, und G. C. Sсhmidt[4] zeigte später, dass auch Thoriumverbindungen ähnliche Strahlen aussenden. Weitere Untersuchungen, namentlich seitens des Physikerpaares Curie[5] ergaben, dass diese Strahlen nicht von dem Uran selbst ausgingen, sondern von gewissen Beimengungen, die durch ein äusserst mühseliges Fraktionierungsverfahren vom Uran getrennt und schliesslich so konzentriert werden können, dass sie etwa 50000 mal stärker strahlen als das Uran. Es scheint, dass in dem Endprodukt, das im wesentlichen aus einem Baryumsalze besteht, ein neues Element enthalten sei, dem man den Namen Radium – das Strahlende – gegeben hat, womit freilich noch keineswegs bewiesen ist, dass gerade dieses neue Element der Ausgangspunkt der Strahlung ist. Von diesen Becquerelstrahlen nun, die man anfangs für nahe verwandt mit den Röntgenstrahlen hielt, fand Giesel[6] und bald darauf Becquerel, dass sie magnetisch ablenkbar und somit viel eher mit den Kathodenstrahlen in Parallele zu stellen seien. Nachdem von Dorn[7] und Becquerel auch die elektrische Ablenkbarkeit festgestellt und, wenn auch nur roh, gemessen war, konnte man für diese Strahlen auch die Geschwindigkeit und die Ladung pro Masseneinheit berechnen, wobei sich der Grössenordnung nach Übereinstimmung mit den bei Kathodenstrahlen erhaltenen Zahlen ergab. Aus neuesten genaueren Versuchen des Referenten, scheint sogar eine völlige Übereinstimmung hervorzugehen.

Wir haben somit in den Radiumsalzen eine Körperklasse, die im stande ist, von selbst, ohne jede äussere Einwirkung, Elektronen auszuschleudern. Wir stehen bezüglich der Energiequelle sowie des ganzen Mechanismus dieser Erscheinung noch vor einem völligen Rätsel, zumal es sich hier um Geschwindigkeiten zu handeln scheint, die fast gleich der Lichtgeschwindigkeit sind, Geschwindigkeiten, die wir durch elektrische Kräfte, d. h. bei wirklichen Kathodenstrahlen sicher nur nach Überwindung der enormsten Schwierigkeiten erreichen können.[8] Gerade das Verhalten der Elektronen bei solch ungeheuren Geschwindigkeiten scheint aber geeignet, über die tiefgehendsten Fragen nach der Konstitution der Elektronen Aufschluss zu geben. Vor allen Dingen lässt sich durch direkte Messung entscheiden, ob die Masse der Elektronen vielleicht nur „scheinbare“, durch elektrodynamische Wirkungen vorgetäuscht ist.[9] Die bislang angestellten Versuche sprechen thatsächlich für die Annahme einer „scheinbaren“ Masse.

Und hiermit kommen wir zu einer Frage, die tief hineingreift in den Bau der Materie überhaupt:

Wenn ein elektrisches Atom bloss vermöge seiner elektrodynamischen Eigenschaften sich genau so verhält, wie ein träges Massenteilchen, ist es dann nicht möglich, überhaupt alle Massen als nur scheinbare zu betrachten? Können wir nicht statt all der unfruchtbar gebliebenen Versuche, die elektrischen Erscheinungen mechanisch zu erklären, nun umgekehrt versuchen, die Mechanik auf elektrische Vorgänge zurückzuführen? Wir kommen hier wieder auf Anschauungen zurück, die schon von Zöllner, vor 30 Jahren, kultiviert wurden und neuerdings von H. A. Lorentz, J. J. Thomson und W. Wien wieder aufgenommen und verbessert worden sind: Wenn alle materiellen Atome aus einem Konglomerat von Elektronen bestehen, dann ergiebt sich ihre Trägheit ganz von selbst.

Zur Erklärung der Gravitation muss noch angenommen werden, dass die Anziehung zwischen ungleichartigen Ladungen etwas grösser sei als die Abstossung zwischen gleichartigen.


  1. Phil. Mag. (5) 46, 528, 1898.
  2. Ann. der Physik 4, 564, 1901.
  3. Compt. rend. 122, 420, 1896.
  4. Wied. Ann. 65, 141, 1898.
  5. Compt. rend. 127, 175, 1898; 129, 714, 823, 1899.
  6. Wied. Ann. 69, 91, 834, 1899; Physik. Ztschr. 1, 16, 1899.
  7. Abh. naturf. Ges. Halle 22, 1900.
  8. Des Coudres, Arch. néerl. (Lorentz-Jubelband 1900, S. 653).
  9. Des Coudres, Verhdl. phys. Ges. Berlin 17, 17 u. 60, 1898.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: Jons
Empfohlene Zitierweise:
Walter Kaufmann: Die Entwicklung des Elektronenbegriffs. S. Hirzel, Leipzig 1901, Seite 14. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kaufmann_Entwicklung_Elektronenbegriffs_1901.pdf/6&oldid=- (Version vom 20.8.2021)