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zwischen Erde und Mond betreffenden Fragen; er streift dabei fast alle Gebiete des Wissens und bietet uns eine naturgemässe Entwicklung derjenigen Betrachtungen, die er in seinen früheren Werken zerstreut und nur gelegentlich ausgeführt hat. Wir dürfen also das ‚Somnium‘ nicht allein als eine auf copernicanischen Principien begründete Mondastronomie, sondern auch als ein Compendium der keplerschen Werke überhaupt ansehen.

Der Gedanke, in der Phantasie den Mond zu besuchen ist schon vor Kepler wiederholt zu dichterischen Gebilden verwerthet worden. Der Zug nach Oben, die Sehnsucht nach den himmlischen Höhen, der Faust an jenem Ostermorgen so beredten Ausdruck leiht, sie ist ein allgemein menschliches Empfinden und die Unerreichbarkeit des in unendlichen Fernen ausgebreiteten Alls reizte die menschliche Phantasie von je her, sich von der an der Erde haftenden Körperlichkeit loszureissen und in unbekannte Räume zu schweifen. Die Sonnenfahrt des Phaeton, der Flug des Ikarus sind solche zu Sagen verdichtete Ausdrücke dieser Sehnsucht. Allein eine ideale Mondreise zum Zweck und zur Verherrlichung der Wissenschaft zu unternehmen, dieser Gedanke entsprang dem Genius Keplers und er mit seiner reichen Phantasie, seiner grossen Combinationsgabe, war der rechte Mann dazu, ihn auszugestalten.

Einige jener dichterischen Gebilde hat Kepler unzweifelhaft gekannt; er selbst erzählt darüber:

„Damals bin ich auf zwei in griechischer Sprache geschriebene Bücher der ‚wahren Geschichten‘, des Lucian gestossen, die ich mir auswählte um diese Sprache zu erlernen, angeregt durch die ansprechende Erzählung, die doch auch etwas über die Natur des Weltalls brachte. Er schiffte über die Säulen des Herkules hinaus in den Ocean und wird von einer Windhose ergriffen, die ihn zuletzt mitsammt seinem Schiffe bis hinauf zum Monde führt [s. Appendix C. 7]. Dies waren für mich die ersten Fusstapfen des in späterer Zeit betretenen Weges nach dem Monde.“

Auch Ariostos[1] romantisches Epos ‚der rasende Roland‘ gehört hierher, obgleich Kepler desselben nicht erwähnt. Die Erzählungen des Cicero[2] des Plato und Plutarchs habe ich, soweit sie unser Buch betreffen, des Zusammenhanges wegen in den Commentaren berührt und erwähne hier nur, dass Kepler auf die letztere wahrscheinlich zuerst

Empfohlene Zitierweise:
Johannes Kepler: Keplers Traum vom Mond. B. G. Teubner, Leipzig 1898, Seite XV. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keplers_Traum_019.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2019)
  1. Ludovico Ariosto, geb. zu Reggio 1474, gest. 1533; berühmter italienischer Dichter. Sein ‚Orlando furioso‘ erschien zuerst 1516.
  2. Ciceros ‚Somnium Scipionis‘ ist gemeint. Marcus Tullius Cicero, berühmter römischer Redner und Schriftsteller, geb. 106 v. Chr. in Arpinum, gest. 43.