Seite:Keyserling Wellen.pdf/196

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mußte so sein. Ruhig stieg sie zum Meere hinunter. Dort legte sie ihren Regenmantel, ihre Schuhe ab und ging in das Wasser. Kleine laue Wellen sprangen an ihr empor. Sie begann zu schwimmen, ein unendliches Wohlbehagen durchrieselte ihren Körper. Schwarze Wellenhügel, in denen die Sterne sich spiegelten wie rege goldene Pünktchen, hoben sie sanft empor und ließen sie wieder sanft in schwarze, goldbestirnte Wellentiefen gleiten. All das Heiße, Enge, Drückende fiel von ihr ab, sie wußte nicht mehr, warum sie hier war, sie wußte nur, daß sie glücklich war und daß sie weiter hinaus mußte. Zuweilen legte sie sich auf den Rücken und schaute hinauf und es war ihr dann, als fiele sie in einen schwarzen Abgrund, in dem goldene Sterne durcheinander wirbelten. Und weiter ging es, einmal schien es ihr, als stünde dort schwarz in all dem Schwarzen wie eine Vision ein Boot regungslos auf dem Wasser. Ihr Schwimmen wurde eiliger, angestrengter, als gäbe es ein Ziel für sie, das sie zu erreichen hatte. Und dann plötzlich lähmend überkam sie das Bewußtsein der furchtbaren Weite um sie her, der furchtbaren Tiefe unter sich. Angst benahm ihr den Atem, alles wurde feindlich, alles war gegen sie und sie mußte kämpfen

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Eduard von Keyserling: Wellen. S. Fischer, Berlin 1920, Seite 196. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Keyserling_Wellen.pdf/196&oldid=- (Version vom 1.8.2018)