Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1837 V1 v 014.jpg

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dem bei Cassel gelegenen Dorfe Niederzwehrn eine Bäuerin kennen lernten, die uns die meisten und schönsten Märchen des zweiten Bandes erzählte. Die Frau, Namens Viehmännin, war noch rüstig, und nicht viel über fünfzig Jahre alt. Ihre Gesichtszüge hatten etwas Festes, Verständiges und Angenehmes, und aus großen Augen blickte sie hell und scharf.[1] Sie bewahrte die alten Sagen fest im Gedächtniß, eine Gabe, die, wie sie wohl sagte, nicht jedem verliehen sey, und mancher gar nichts im Zusammenhange behalten könne. Dabei erzählte sie bedächtig, sicher und ungemein lebendig mit eigenem Wohlgefallen daran, erst ganz frei, dann, wenn man es wollte, noch einmal langsam, so daß man ihr mit einiger Uebung nachschreiben konnte. Manches ist auf diese Weise wörtlich beibehalten, und wird in seiner Wahrheit nicht zu verkennen


  1. Unser Bruder Ludwig Grimm hat eine recht ähnliche und natürliche Zeichnung von ihr radiert, sie wird einmal in der Sammlung seiner Blätter, wovon bei Artaria ein Heft erschienen ist, zu haben sein. Einen zwar verkleinerten doch wohlgerathenen Nachstich davon liefert das Titelkupfer vor dem zweiten Band. Durch den Krieg gerieth die gute Frau in Elend und Unglück, das wohlthätige Menschen lindern aber nicht heben konnten. Der Vater ihrer zahlreichen Enkel starb am Nervenfieber, die Waisen brachten Krankheit und die höchste Noth in ihre schon arme Hütte. Sie wurde siech, und starb am 17. Nov. 1816.
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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1837). Göttingen: Dieterich, 1837, Seite XIV. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1837_V1_v_014.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)