Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1850 I 256.jpg

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Der Tod, als er sich zum zweitenmal um sein Eigenthum betrogen sah, gieng mit langen Schritten auf den Arzt zu und sprach „nun kommt die Reihe an dich,“ packte ihn mit seiner eiskalten Hand so hart, daß er nicht widerstehen konnte, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da sah er wie tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen brannten, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, andere dagegen brannten wieder auf, also daß die Flämmchen in beständigem Wechsel hin und her zu hüpfen schienen. „Siehst du,“ sprach der Tod, „das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch haben auch Kinder und junge Leute oft nur ein kleines Lichtchen.“ Der Arzt bat er möchte ihm auch sein Lebenslicht zeigen. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte und sagte „siehst du, da ist es.“ „Ach, lieber Pathe,“ sagte der erschrockene Arzt, „zündet mir ein neues an, thut mirs zu liebe, damit ich meines Lebens genießen kann, König werde und Gemahl der schönen Königstochter.“ „Ich kann nicht,“ antwortete der Tod, „erst muß eins verlöschen, eh ein neues anbrennt.“ „So setzt das alte auf ein neues, das gleich fortbrennt sobald jenes zu Ende ist,“ sprach der Arzt. Der Tod stellte sich als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, langte ein frisches großes Licht herbei: aber beim Umstecken versah ers, um sich zu rächen, absichtlich, und das Stückchen fiel und verlosch. Da sank der Arzt zu Boden, und war nun selbst in die Hand des Todes gefallen.

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1850). Göttingen 1850, Seite 256. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1850_I_256.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)