Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 209.jpg

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abwickelst, an dem ich fortfliege, so kannst du mich erlösen, aber hüte dich daß es nicht entzwei bricht“. Das Mädchen fängt an abzuwickeln, und der Schwan steigt in die Luft: es wickelt den ganzen Tag, so daß das Ende des Fadens schon zu sehen ist, da bleibt er unglücklicherweise an einem Dornstrauch hangen und bricht ab. Das Mädchen weint, und da es Nacht wird, geräth es in Angst, fängt an zu laufen und kommt endlich zu einem Haus dessen Licht es hatte leuchten sehen. Es klopft an, ein altes Mütterchen tritt heraus, „ei, mein Kind“, spricht es, „wo kommst du so spät her?“ Es bittet um Brot und Herberge. „Das ist ein schwer Ding, mein Mann ist ein Menschenfresser, kommt der heim, so frißt er dich, und bleibst du im Wald, so fressen dich die wilden Thiere: doch tritt herein, ich will sehen ob ich dir durchhelfen kann“. Sie gibt ihm ein wenig Brot und versteckt es unter das Bett. Vor Mitternacht, wenn die Sonne völlig untergegangen war, kam jedesmal der Menschenfresser nach Haus, vor Sonnenaufgang gieng er wieder hinaus. Wie er eintritt, spricht er gleich „ich wittre, wittre Menschenfleisch!“ greift unter das Bett und zieht das Mädchen hervor, „das ist noch ein guter Bissen!“ „Ach“, spricht die Frau, „heb dirs zum Frühstück auf, es ist doch nichts da“. Er läßt sich überreden, und schläft ein. Vor Sonnenaufgang kommt die Alte zum Mädchen und spricht „eil dich und lauf fort, da schenk ich dir ein goldenes Spinnrädchen, ich heiße Sonne“. Das Mädchen geht fort, den ganzen Tag bis zur Nacht, da kommt es an ein Haus, worin wieder eine Alte und ein Menschenfresser wohnt, und wo es wie am vorigen Abend hergeht. Beim Abschied gibt die Alte ihm eine goldene Spindel und spricht „ich heiße Mond“. Am dritten Abend wiederum dasselbe Ereignis, die Alte schenkt ihm einen goldenen Haspel und spricht „ich heiße Stern“. Dann sagt sie ihm auch der König Schwan, obgleich das Garn nicht ganz abgewickelt worden, sei doch so weit erlöst daß er seine menschliche Gestalt wieder erlangt habe und in großer Herrlichkeit in seinem Reich auf dem Glasberg sitze, wo er sich verheirathet habe. Heut Abend werde es an den Glasberg kommen, aber ein Löwe und ein Drache liege davor, die solle es mit Brot und Speck besänftigen, welches sie ihm auch noch gibt. Nun geht das Mädchen fort, bis es zu dem Berg kommt, da wirft es den Ungeheuern das Brot und den Speck in den Rachen, damit sie es durchlassen; so langt es bis ans Schloßthor, aber das wollen ihm die Wächter nicht öffnen. Es setzt sich außen hin und spinnt auf

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_209.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)