Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 291.jpg

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war lange Zeit unter allen, die bei irgend einem Volk veranstaltet wurden, die beste und reichhaltigste. Nicht nur war damals die Überlieferung an sich noch vollständiger, sondern der Verfasser besaß auch, neben der genauen Kenntnis der Mundart, eine eigene Geschicklichkeit im Auffassen derselben. Der Inhalt ist fast ohne Lücke, und der Ton, wenigstens für die Neapolitaner, vollkommen getroffen, worin gleichfalls ein Vorzug vor Straparola liegt, der nach der gewöhnlichen, ausgebildeten Erzählungsart strebte und eine neue Saite anzuschlagen nicht verstand. Man kann demnach diese Sammlung von 50 Märchen (die Einleitung und den Schluß mitgerechnet) bei ihrem reichen Inhalt als eine Grundlage betrachten; denn ob sie es gleich in der That nicht war, im Gegentheil außer dem Lande nicht bekannt, nicht einmal in das französische übersetzt ward, so hat es doch bei dem Zusammenhang der Überlieferung das Ansehen davon. Zwei Drittel finden sich den Grundzügen nach im Deutschen und noch zu jetziger Zeit lebendig. Basile hat sich keine Veränderung, schwerlich einen bedeutenden Zusatz erlaubt, und das gibt auch von dieser Seite seinem Werk einen besondern Werth. Den frühern Straparola hat er nicht benutzt, wahrscheinlich nicht einmal gekannt; beide haben nur vier Stücke gemeinschaftlich (Nr. 3. 14. 41. 45 bei Straparola 3, 1. 10, 1. 5, 2. 7, 5) und aus der Vergleichung ergibt sich klar daß er unabhängig davon schrieb. Merkwürdig ist in dieser Hinsicht das Märchen von der Puppe (5, 1, bei Straparola 5, 2), Basile erzählt es, sonst ziemlich übereinstimmend, von einer Gans, was in der That weniger paßt, und offenbar hat Straparola das richtigere, wie auch sonst ein paar Züge mehr; die seltsame Abweichung erklärt sich aber aus der Ähnlichkeit welche die beiden, von der mündlichen Überlieferung verwechselten Wörter, papara Gans und pipata Puppe, im Klang mit einander haben[1] Basile hat ganz im Geiste


  1. Dagegen hat Liebrecht 2, 260 und zu Dunlop 517 eine Anmerkung gemacht. Ich behaupte nicht daß Basile absichtlich pipata in papara verwandelt habe, vielmehr hat es, wie gesagt, die lebendige Überlieferung gethan. Eine Puppe von Lappen konnte besser zum Reinigungsmittel dienen als eine große Gans, deren Lebendigwerden, nachdem ihr der Hals umgedreht war, wenigstens nicht wahrscheinlich ist. Auch verlangt Rabelais un oison dumelé, wie man von Taubmann erzählt daß er ein kleines, noch in den Flaumfedern steckendes Gänschen auf die Wiese verwendet habe. Die Puppe war ein koboltartiges Wesen, mit dem bekannten Ducatenmännchen verwandt, und die Auffassung Straparolas scheint mir das ursprünglichere zu enthalten.
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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 291. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_291.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)