Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 341.jpg

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hernach wird auf eine sehr gute und lustige Weise das Ungeheuere und Riesenhafte gesteigert und überboten.


Bei den Russen sind noch keine Märchen gesammelt. Zwar scheint in einem Buch mit dem Titel Altrussische Märchen von Johann Richter (Leipzig 1817) der Anfang gemacht, aber dieser erste Band enthält nichts als die Übersetzung einer russischen Erzählung, der Ritter Bulat oder der goldene Kelch und die heilige Krone, die eine höchst unbedeutende, allegorisch gemeinte Erfindung ist, ohne Spur von einem echten Märchen[1]. Dagegen aus reiner Quelle geschöpft sind die in der Nähe von Moskwa gesammelten Lieder, die v. Busse unter dem Titel „Fürst Wladimir und dessen Tafelrunde“ herausgegeben hat (Leipzig 1819). Manches darin ist völlig märchenhaft. Ilja in dem 2ten und 6ten Liede ist der Dummling deutscher Märchen. Seine gewaltige Kraft schlummert, dreißig Jahre sitzt er unthätig und unbehülflich: da erhebt er sich, tödtet den von allen gefürchteten Feind mit einem Pfeilschuß der durch neun Baumäste schlägt, oder er faßt seinen Gegner um die Hüften, wirft ihn in die Luft und fängt ihn wieder; den Wein trinkt er aus einem Eimer. Er ist im Charakter mit dem Siegfried des Nibelungelieds verwandt, wie der trotzige Knabe Wassily der die Vögte die ihn greifen wollen, fortjagt. Tschurilo im 3ten Liede gleicht dem jungen Riesen im deutschen Märchen (Nr. 90); er zerreißt sechs Häute wie morsches Linnen und bricht, wie jener, einen Eichbaum sammt den Wurzeln aus der Erde, um damit zu kämpfen; wenn er einem Pferd die Hand auf den Rücken legt, so sinkt es nieder. Sein Roß duldet ihn allein, wie das Roß Grane den Sigurd. Nugarin im 1ten Liede wirft mit solcher Kraft einen Stein daß er wie ein Vogel fliegt, gerade wie der tapfere Schneider (Nr. 20) dasselbe thun will, aber heimlich wirklich einen Vogel statt des Steins dazu genommen hat.



  1. Das russische Original erschien in den Jahren 1780–83 zu Moskwa unter dem Titel „Russische Sagen enthaltend die ältesten Erzählungen von berühmten Rittern“. Der Herausgeber ist der bekannte russische Literator Nicolai Nowikow.
Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 341. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_341.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)