Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 349.jpg

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hat[1]. Wie wahrscheinlich in Hinsicht auf ihren Ursprung so auch Inhalt und Werth nach sind die einzelnen Stücke sehr verschieden. Im Ganzen haben sie zwar den Charakter der Märchen, ernster und scherzhafter, indessen sind sie auch wieder durch manche geschichtliche Umstände, besonders durch den berühmten Chalifen Harun-al-Raschid, an eine bestimmte Zeit und einen bestimmten Ort gebunden; dies aber hat auf der andern Seite die Phantasie nicht gehindert sich darin nach aller Lust auszubreiten. Insofern zeigt sich auch schon eine gewisse absichtliche Ausbildung, und als ganz rein aufgefaßte Überlieferungen können sie nicht mehr gelten; ein Beispiel mögen die Reisen des Sinbad sein, wo eine kleine Odyssee zusammengetragen ist und wo sich Polyphem so gut wieder findet wie in jenem oghuzischen Cyklopen, den Diez entdeckt und mit dem homerischen verglichen hat. Auf diese Weise wird wahr was Göthe im Divan (S. 286) zu dem Verbot des Korans anmerkt. „In seiner Abneigung gegen Poesie erscheint Mahomet auch höchst consequent, indem er alle Märchen verbietet. Diese Spiele einer leichtfertigen Einbildungskraft, die vom Wirklichen bis zum Unmöglichen hin- und wiederschwebt, und das Unwahrscheinliche als ein Wahrhaftes und Zweifelloses vorträgt, war der orientalischen Sinnlichkeit, einer weichen Ruhe und einem bequemen Müßiggang höchst angemessen. Diese Luftgebilde, über einem wunderlichen Boden schwankend, hatten sich zur Zeit der Sassaniden ins Unendliche vermehrt, wie sie uns die 1001 Nacht, an einen losen Faden gereiht, als Beispiele darlegt. Ihr eigentlicher Charakter ist daß sie keinen sittlichen Zweck haben und daher den Menschen nicht auf sich selbst zurück sondern außer sich hinaus ins unbedingte Freie führen und tragen. Gerade das Entgegengesetzte wollte Mahomet bewirken“. Die schwächsten Stücke sind die, worin man die meiste Erfindung spürt, und worin die gewöhnliche Zauberei als Zuthat oder Würze allzustark eingemischt ist, z. B. die Erzählung von Condad und Deryabar (Bd. 5) oder von Halib (Bd. 9), letztere gar ist eine unbedeutende und oberflächliche Geistergeschichte. Andere scheinen äußerlich zusammengesetzt, wie die Erzählung von drei Prinzen die ausziehen um die wunderbarste Sache herbeizubringen (Bd. 7). Dann folgen die welche eine sittliche Lehre anschaulich machen, wie z. B. die Erzählung von dem


  1. S. oben S. 122 Anmerk.
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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 349. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_349.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)