Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 399.jpg

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bekannt geworden, und doch kann es daran dort nicht fehlen, wenn man sie nur aufsuchen und vor dem Untergang bewahren will. Die heftig drängende, der Ruhe entwöhnte Zeit mag zum Theil die Schuld tragen, ja es kann kommen, daß wie der Apfelbaum der Frau Holle vergeblich bittet geschüttelt zu werden, die Früchte endlich am Zweig vertrocknen oder herab fallen, wenn sie verfault sind: aber eine solche Zeit ist auch geeignet bei Einzelnen, die ein Gefühl von dem Werth dieser mit einem glücklichen Dasein verknüpften Überlieferungen überkommt, die Lust zur Beschäftigung damit hervor zu rufen. Hat sie sich doch sogar in Frankreich geregt, das zeigen die Übersetzungen der deutschen Märchen, auch das Buch von Emile Souvestre über die Bretagne, nur hat niemand den Weg wieder betreten, den Perrault angebahnt hatte, dessen kleines aber treffliches Buch noch heute sein Ansehen behauptet. Ich habe schon oben (S. 300–302) nachgewiesen daß von seinen dreizehn Märchen die meisten mit deutschen verwandt sind; es ist wohl nur Zufall daß sich der gestiefelte Kater noch nicht vollständig in Deutschland gefunden hat. In Frankreich, zumal in dem südlichen, mögen die Märchen noch in reicher Fülle vorhanden sein: ausdrücklich sagt das ein C. S. unterzeichneter, an den Redacteur des Globe (1830. Nr. 146) gerichteter Brief, der zugleich ein merkwürdiges Beispiel anführt, das Märchen von dem Machandelbaum (Nr. 47) mit ziemlich geringen Abweichungen; selbst die Reime mit entsprechendem Inhalt fehlen darin nicht. Das Volk würde wohl geschickt sein diese Überlieferungen frisch und lebendig zu erzählen. Es käme nur darauf an daß man sie sammeln und ohne Überarbeitung und Zusätze bekannt machen wollte.

Bevor ich von den Märchen des deutschen Stammes rede, muß ich den Blick nochmals nach dem Morgenlande richten, dahin wo die über die Erde verbreiteten Völker ihre ersten Sitze hatten. Altindische Märchen in beträchtlicher Anzahl enthält Somadevas Sammlung. Er lebte im elften Jahrhundert zu Kaschemir und seine Absicht war, wie er am Eingang des im epischen Versmaß abgefaßten Gedichts sagt, das bunte Märchennetz dem Gedächtnis zu erhalten. Er benutzte frühere Werke ähnlichen Inhalts, wovon die wichtigern noch vorhanden sind, selbst Ramayana, Mahabharata und die Legenden der Puranen haben ihm Beiträge geliefert; das Alter der Märchen geht also weit über Somadevas Zeit hinauf. Da er ausdrücklich bemerkt daß er nichts ausgelassen und nur den Inhalt zusammen gedrängt

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_399.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)