Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 400.jpg

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habe, so wird dieser vollständiger und zusammenhängender sein als bei späteren Auffassungen möglich gewesen wäre. Sein Ausdruck ist gebildet und verständig, aber eintönig und ohne höhere Belebung: auch das Naive fehlt, die Luft, in der diese Dichtungen allein gedeihen; man fühlt daß die Sage nicht unmittelbar aus dem Munde des Volks genommen ist und schon mehr als eine Überarbeitung erfahren hat. Sonst würde auch die Verwandtschaft mit deutschen Sagen und Märchen deutlicher hervor getreten sein, die sich doch in der Anlage und Entwickelung der Begebenheiten, wie in einzelnen Zügen und Wendungen erkennen läßt. Man weiß daß Siegfried Nibelungs Schwert erwarb, als er eine Erbschaft theilen sollte, was Wackernagel (Haupts Zeitschrift 2, 544) als alten Rechtsgebrauch erklärt, und in deutschen Märchen (Nr. 92. 193. 197 u. oben S. 327) wird erzählt wie ein Bedrängter oder in Lebensgefahr Schwebender zwei Streitenden begegnet, und zu gleichem Geschäft aufgerufen wird: so geschieht dem Putraka bei Somadeva (1, 19). Dem indischen Helden wird, wie dort dem Glückskind (Nr. 60), jeden Morgen bei seinem Erwachen ein Goldstück unter dem Kopfkissen bescheert (1, 17), womit man den Hort Siegfrieds und den sich immer mehrenden Ring Andvaris vergleichen kann. Noch weitere Ähnlichkeiten zeigen sich im Geschick beider. Putraka steigt Nachts in die Burg der bewachten Patali, dringt in ihr Gemach und weckt sie aus dem Schlaf, um sich mit ihr zu vermählen, was mit Sigurds erstem Besuch bei Brünhild zusammen kommt. Ein rother Lappen wird dem Putraka aufs Gewand genähet, wie dem Siegfried ein Kreuz. Neid und Bosheit trachten dem indischen König nach dem Leben und verlocken ihn auf eine Pilgerfahrt, um ihn im Heiligthum zu ermorden, wie gleiche Verrätherei den deutschen Helden auf die Jagd lockt, wo er am Brunnen mit dem Speer durchbohrt wird. Ein anderes Beispiel gewährt die Geschichte von Askodatta und Vyaydatta, die mit dem Märchen von den zwei Brüdern (Nr. 60) Ähnlichkeit hat.

Die Märchen, die bei den Indiern noch heute umgehen, zeigen ganz die volksmäßige Natur. Ein solches findet man als Anhang zu Somadeva Bhatta, in einem andern (Schlegel ind. Bibl. 2, 263) streiten vier Braminen wer der thörigste sei, wie etwa in einem deutschen (Nr. 151) wer der faulste. Am merkwürdigsten sind die Geschichten des Paramarta (Einfaltspinsels), weil, ganz im Geist der deutschen Lalenbürger, unter dem Schein der höchsten Weisheit die

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_400.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)