Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 408.jpg

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Decke der Unschuld ausführt: übertroffen wird es von dem irischen Darby Duly, und noch weiter geht der walachische Bakâla der keine Schandthat scheut.

Dagegen ist es harmlose Lust, die den Aufschneider antreibt, wenn er behauptet unerhörte Dinge vollbracht zu haben. Er ist an einem dünnen Stiel in den Himmel gestiegen, hat sich dort umgesehen und hernach an einem Seil von Spreu wieder herabgelassen, oder was er sonst Unglaubliches erlebt hat. Davon berichten deutsche Märchen (Nr. 112. 138. 159), ein norwegisches (Asbjörnsen S. 284), am vollständigsten ein serbisches vom Bartlos (oben S. 336) und ein slavonisches (Vogl S. 71): auf andere Weise, aber nicht minder gut, das irische von Daniel O Rourke; die bekannten münchhausischen Lügen sind nur ein matter, geistlos behandelter Nachhall. Dichtungen dieser Art waren schon frühe vorhanden, der Modus florum aus dem zehnten Jahrhundert (Eberts Überlieferungen 1, 79) knüpft sie, wie ein deutsches Märchen (oben S. 194) an die Bekanntmachung eines Königs, wonach derjenige seine Tochter zur Frau haben soll, der am besten zu lügen weiß. Gewahrt wird dabei immer ein gewisser Schein des Möglichen, während die Märchen vom Schlaraffenland (Nr. 158. Haupts Zeitschrift 2, 560) absichtlich das Unmögliche zusammen bringen: der Habicht schwimmt über den Rhein, die Fische schreien, der Blinde sieht einen Hasen laufen und der Stumme ruft den Lahmen herbei, der den Hasen greift. Die menschliche Einbildungskraft befriedigt hier das Verlangen das große, alle Schranken zerschneidende Messer einmal mit voller Freiheit zu handhaben.

Gern wird der Faule und Träge geschildert und mit immer neuen Zügen diese dem Menschen angeborne Neigung bis zur höchsten Spitze getrieben, wie in Nr. 151. Im 15ten und 16ten Jahrhundert waren Märchen dieser Art beliebt, der Faule, selbst wenn er unter der Dachtraufe liegt, bewegt sich nicht, sondern läßt das Wasser zu dem einen Ohr herein, zu dem andern heraus fließen (Kellers Fastnachtsspiele S. 86. Fischarts Flohhatz 48a).

Der Meisterdieb, der den gemeinen Diebstahl verachtet, aber, einer angeborenen unbezwinglichen Lust folgend, mit kecker Gewandtheit Streiche ausführt, die einem andern unmöglich sind, der dem Vogel die Eier unter den Flügeln wegnimmt, ohne daß es dieser merkt, was schon Elbegast verstand, ein solcher macht auf eine gewisse Ehre Anspruch. Man gedenkt seiner nicht bloß ohne Unwillen, es

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 408. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_408.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)