Seite:Kinder und Hausmärchen (Grimm) 1856 III 413.jpg

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beweist das hohe Alter der Thiermärchen in Indien, und Babrius der aus mündlicher Sage schöpfte, überliefert die griechische, die wir sonst nur aus den trockenen Auszügen bei Äsop und in der wenig belebten Darstellung bei Phädrus und Arianus kannten, noch in warmer Auffassung. Vielleicht haben die Scandinavier bei ihrer Einwanderung schon die Thiersage mitgebracht, sollte sie auch nicht ganz erloschen sein, so haben wir doch keine Kenntnis davon, nur das Märchen von dem Bär und Fuchs (Asbjörnsen Juletraet S. 54) ist anzuführen. Bei andern Völkern sind Gründe vorhanden, die uns berechtigen auf ein früheres Dasein zurückzuschließen, oder es zeigen sich einzelne Spuren, gleichsam die letzten Blätter eines absterbenden Baums. Wenn in dem altindischen und tibetischen Epos, bei den Nordamerikanern, Finnen, Gälen, Persern, Slaven und Romanen häufig genug Thiere in die Schicksale der Menschen verflochten werden, oder gute und böse Götter in Thiergestalt ihre Macht ausüben (als eins der schönsten Beispiele habe ich oben aus Mahabharata das Märchen von der Taube und dem Habicht angeführt), so wird doch nicht das abgesonderte, von den Menschen unabhängige Leben der Thiere dargestellt: darin aber liegt der Grundgedanke, der als das ursprüngliche auch bei den Betschuanen und den Negern zu Bornu zum Vorschein kommt. In dem Märchen eines Kosacken finde ich ihn so wenig als in den Thierfabeln des Mahabharata (Holzmann 1, 81. 2, 168), die nur eine sittliche Betrachtung geltend machen wollen.

In diesen Dichtungen wird den Thieren der geordnete Zustand eines staatlichen Lebens beigelegt. Ein König herrscht über sie und fordert unbedingten Gehorsam: es gilt ein herkömmliches Gesetz, dem sich alle unterwerfen. Sie haben Anführer, vereinigen sich in Schaaren die gegen einander ausziehen und sich bekriegen. Über Treue und Redlichkeit erhebt sich Bosheit und List, bei deren Vertretung der Fuchs seine ausgezeichnete Begabung an den Tag legt. Rohe Gewalt hilft nicht immer, der kleine Zaunkönig weiß über den mächtigen Adler wie über den unbeholfenen Bären den Sieg zu erlangen. Durch die Sprache die ihnen verliehen ist und sie höherer Gedanken theilhaftig macht, werden sie dem Menschen fast gleichgestellt, der ihnen gegenüber manchmal feindselig auftritt und gerade nicht in gutem Licht erscheint, aber auch oft den Kürzern zieht. Der schwache Sperling weiß den ihm befreundeten Hund an dem unbarmherzigen Fuhrmann zu rächen, den er völlig ins Verderben lockt. Dann aber zeigen

Empfohlene Zitierweise:
Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 3 (1856). Dieterich, Göttingen 1856, Seite 413. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_(Grimm)_1856_III_413.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)