Seite:Kinder und Hausmärchen Grimm 1843 I 258.jpg

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Der Tod, der sich zum zweitenmal um sein Eigenthum betrogen sah, trat zu dem Arzt, sprach „nun kommt die Reihe an dich,“ packte ihn hart mit seiner eiskalten Hand, und führte ihn in eine unterirdische Höhle. Da brannten tausend und tausend Lichter in unübersehbaren Reihen, einige groß, andere halbgroß, andere klein. Jeden Augenblick verloschen einige, andere dagegen brannten wieder auf, also daß die Flämmchen in beständigem Wechsel hin und her zu hüpfen schienen. „Siehst du,“ sprach der Tod, „das sind die Lebenslichter der Menschen. Die großen gehören Kindern, die halbgroßen Eheleuten in ihren besten Jahren, die kleinen gehören Greisen. Doch haben auch Kinder und junge Leute oft nur ein kleines Lichtchen.“ Der Arzt bat er möchte ihm auch sein Lebenslicht zeigen. Der Tod deutete auf ein kleines Endchen, das eben auszugehen drohte, und sagte „siehst du, da ist es.“ „Ach, lieber Pathe,“ sagte der erschrockene Arzt, „zündet mir ein neues an, thut mirs zu liebe, damit ich meines Lebens genießen kann, König werde und Gemahl der schönen Königstochter.“ „Ich kann nicht,“ antwortete der Tod, „erst muß eins verlöschen, eh ein neues anbrennt.“ „So setzt das alte auf ein neues, das gleich fortbrennt sobald jenes zu Ende ist,“ sprach der Arzt. Der Tod stellte sich als ob er seinen Wunsch erfüllen wollte, langte ein frisches großes Licht herbei; aber beim Umstecken versah ers, um sich zu rächen, absichtlich, und das Stückchen fiel und verlosch. Da sank der Arzt um und war nun selbst in die Hand des Todes gefallen.

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Brüder Grimm: Kinder- und Haus-Märchen Band 1 (1843). Göttingen 1843, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kinder_und_Hausm%C3%A4rchen_Grimm_1843_I_258.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)