Seite:Klabund Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde 030.jpg

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Ich weiß nicht, ob er Günther gekannt hat. Jedenfalls hätte ihn seine Wildheit und sein Feuer bestürzt und erschreckt. Denn er war für das Manierliche und Moralische. Bürgerlich-wohlanständig, klar, deutlich und nüchtern hatte die Poesie zu sein. In seinem „Versuch einer kritischen Dichtkunst für die Deutschen“ stellte er eine enge und beschränkte Theorie auf und verlangte mit der Geste eines Diktators, daß sich jeder Dichter – immer mal wieder – strickt danach zu richten habe, ansonst der Herr Lehrer ihm eine Fünf ins Büchel schreibe. Das Wichtige an Gottscheds dramaturgischen Leistungen ist das Wagnis, das Experiment. Andere erst sollten aus seinen Erfahrungen lernen. Der Liebling des Lesepublikums wurde Christian Fürchtegott Gellert (aus Sachsen, 1715–1769). Das ist nicht zu verwundern, denn er vereinigte die damaligen Richtungen harmonisch in sich: Gottscheds Steifheit, Bodmers „moralische“ Phantasie, Hallers gebirgiges Barock und eine milde pietistische Frömmigkeit, die seit Gerhard und Gryphius aus der deutschen Dichtung nicht verschwunden war. Zu seiner Volkstümlichkeit trug nicht wenig ein ehrenfester, lauterer Charakter bei. In ihm durfte das Bürgertum sein Ideal sehen: selbst Friedrich der Große, der in seiner Schrift „Von der deutschen Literatur“ vor der deutschen Dichtung absolut keinen Respekt zeigte, verneigte sich huldigend vor dem kleinen Leipziger Professor der Beredsamkeit und Moral. Seine Fabeln, Erzählungen und geistlichen Lieder plätschern sacht und sanft daher, hie und da mit einem Schuß gutmütiger Bosheit versehen, gerade so boshaft, daß es nicht weh tut. Denn weh tun wollte diese personifizierte Güte niemandem. Er war nicht nur ein Fürchtegott, sondern auch ein Fürchtemensch und Fürchtetier. Daß das Tier in ihm wie in jedem Menschen lebendig war, beweist eine in mancher Fabel durchbrechende Lüsternheit, die zu unterdrücken seine ganze moralische Kraft notwendig war. Denn er war zu krank, um einer animalischen Lust recht und wahrhaft leben zu können wie

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Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 30. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_030.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)