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Erotomane[1], dessen moralische Komplexe sich bis zum exzessiven Pathos steigern konnten. Er war ein genialer Spießer – mit umgekehrtem Vorzeichen. Ein erotischer Frömmler. Ein frömmelnder Erotiker. Flagellant, Sadist, Massochist aus religiöser Überzeugung. Ihm war das Weib die große Hure von Babylon, und als solche immer anbetungswürdig. Er führte ein Tagebuch aller Zärtlichkeiten, der sanften und der schrecklichen. Er führte dieses Tagebuch gewissenhaft wie ein Oberlehrer. Als Oberlehrer (mit dem schlechten Gewissen des ehemaligen Schülers ...) fühlt er sich auch seinen Geschöpfen gegenüber: eine Lulu, eine Franziska, die zu seiner Liebe, zu seinem Leben emporgepeitscht wurden – um sich dann an ihrem Lehrmeister aufs grausigste zu rächen. In der Verbohrtheit im Problematischen ist er Hebbel, in der Technik den Stürmern und Drängern verwandt: diese dramatische Technik der Einzelbilder, Einzelszenen, wie sie schon „Frühlingserwachen“ einführt, hat im deutschen Drama neuerdings Furore gemacht. Sein Kinderdrama „Frühlingserwachen“ wird bleiben, bleiben wird der Marguis von Keith und vor allem: Lulu. In ihr und in der kleinen Wendland hat er die natürliche Dämonie des Weibes groß gestaltet. Es ist vielleicht kein Zufall, daß in den vorzüglichsten Dramen der Epoche Frauen im Mittelpunkt der tragischen und komischen Handlung stehen: die Lulu im „Erdgeist“, Hannele in „Hanneles Himmelfahrt“, die Wulkow im „Biberpelz“, Madame Legros (im gleichnamigen Drama von Heinrich Mann) – nichts beweist klarer als dies, daß wir in einer romantischen Epoche leben: Lulu ist die Inkarnation der geschlechtlichen, Hannele die der kindlichen, Madame Legros die der mütterlichen Liebe der Frau. Lulu will die irdische Lust, Hannele die himmlische Liebe, Madame Legros die dies und jenseitige Gerechtigkeit. – Wilhelm Schmidtbonn behandelte im „Grafen von Gleichen“ das Problem des Mannes zwischen zwei Frauen. Der erste Akt gehört zu den besten ersten Akten der deutschen Literatur. – Carl Sternheim zeichnet in seinen

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Erotomanie, wahnhaft ausgeprägte, unwiderstehliche Liebe zu einer meist unerreichbaren Person.
Empfohlene Zitierweise:
Klabund: Deutsche Literaturgeschichte in einer Stunde. Leipzig-Gaschwitz: Dürr & Weber, 1920, Seite 88. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Klabund_Deutsche_Literaturgeschichte_in_einer_Stunde_088.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)