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immer noch eine andere Sache war, vom deutschen Süden aus die Schmach des Vaterlandes zu sehen und zu kritisiren, oder sie im preußischen Norden im eigenen Fleisch und Blut zu empfinden, und daß die Luft der Freiheits­kriege auf der Feldwacht und im Heerlager doch wol schärfer wehte, als in der Studirstube? Ließ doch der große Todes- und Auferstehungskampf unseres Volkes selbst die Leier unseres herrlichen Uhland nur in seltenen vereinzel­ten Tönen erklingen, während nachher die Klage um die verkümmerten Früchte des Sieges (zum 18. October 1816!) in so gewaltigen, unvergeßlichen Tönen seinem Liede entströmte! Uhland war eben wie Rückert theilnehmender Zuschauer im Kampfe gegen die Franzosen; aber er war Mitkämpfer, und zwar ein tapferer, im Streit für die innere Freiheit. Damit ist wol das Wesentliche gesagt. Es ist eben eine wunderbare Sache um das Volks­lied. Seine schönsten Blüthen sind meist mehr und weniger als Kunst­werke. Sie sind der Zuruf des Unterdrückten, der Seufzer des Liebenden, der Jubelruf des Siegers; sie haben mit dem Sausen des Windes, mit dem Rauschen des Meeres, mit dem Gesange des Vogels mehr gemeinsam, als mit der Metrik und der Aesthetik. Wo es an Herz und Nieren geht, da findet das Volkslied seine unsterblichen Klänge. Und darum wollen wir uns denn vor der Hand auch nicht verwundern und nicht klagen, sondern einstweilen ganz zufrieden sein, wenn die zu Hunderten in den Zeitungen stehenden, vielfach so braven, wohlklingenden, verständigen Kriegslieder dieses glorreichen Jahres bis jetzt die Melodien von 1813 noch nicht wieder zu finden scheinen, Freiligrath’s treffliche „Germania“, wol das Beste uns zu Gesicht gekommene nicht ausgenommen. Kladderadatsch mit seinem Chassepotpot hat die Volksstimmung des Kriegsanfangs noch am glücklichsten ge­troffen, und das ist belehrend. Es bleibt doch, auch vom poetischen Stand­punkte aus, ein ander Ding um eine große Mobilmachung von 1870 gegen Ihn, Sie und Es, als um die Volkserhebung von 1813 gegen den dämo­nischen Schlachtengott, vor dem der Erdkreis zitterte. Das preußische Heer von 1870 leistet Wunder der Aufopferung, für die, die Sprache keine Aus­drücke hat. Das „Werkzeug“ ist furchtbar „schneidig und scharf“ und den, der es führt, hat Gott bis jetzt auch gesegnet. Aber es ist auch eine lang­jährige, ziemlich unlyrische Zusammendrängung der nationalen Kraft auf das Gebiet des dem Leben zugewandten Gedankens und der von ihm geleiteten That nothwendig gewesen, um solche Leistungen möglich zu machen. Und bis die Armee von Weißenburg, Wörth, Saarbrücken, Metz, ihren Dichter findet, schreibt sie einstweilen mit eisernem Griffel eine Seite Geschichte, neben der die Ilias und die Nibelungen sich wie Scherzspiele ausnehmen. Uns Anderen aber schenke der alte treue Gott dazu Dankbarkeit und Ver­nunft und Festigkeit im Siege. Die Siegeslieder werden sich dann wol auch noch finden.

Fr. Kreyßig.
Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Kreyßig: Die Dichter der Befreiungskriege. A. H. Payne, Leipzig 1870, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Kreyssig-Die_Dichter_der_Befreiungskriege.pdf/11&oldid=- (Version vom 10.12.2016)