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Mein erstes Gefühl war das der Erniedrigung, einen solchen Rivalen zu haben. Vielleicht wäre ich wütender gewesen, wenn ich einen schönen Kerl da angetroffen hätte. Diesen Fall überlasse ich der Entscheidung der zahlreichen Liebhaber, die sich in einer ähnlichen Situation befunden haben. Schon wollte ich meinen Aeskulap mir nichts dir nichts niederschlagen, aber, was bei mir sehr selten vorkam, die Überlegung hielt mich zurück. Wir befanden uns an einem Kriegsplatz. Man konnte mich schikanieren wegen meiner Aufenthaltserlaubnis, man konnte mir irgendeinen bösen Streich spielen. Und dann trotz alledem, Delphine war ja nicht meine Frau, ich hatte kein Recht über sie. Immerhin nahm ich mir doch das Recht, sie mit Tritten in den Hintern zur Tür hinauszuwerfen, wonach ich ihr durchs Fenster ihren Flitterkram und Geld herunterschmiß, damit sie nach Gent kommen konnte. Ich bemächtigte mich so des Restes des Geldes, das ich rechtmäßig erworben zu haben glaubte; denn ich hatte ja die ganze wunderbare Expedition geleitet, durch die man es den Österreichern abgenommen hatte. Fast hätte ich vergessen zu sagen, daß ich den Doktor seinen Rückzug in Frieden ins Werk setzen ließ.

Ich war nun meine Ungetreue los, und trotzdem meine Erlaubnis zum Bleiben schon abgelaufen war, saß ich noch immer in Lille. Aber man kann sich in dieser Stadt fast ebenso leicht verbergen wie in Paris. Und mein Aufenthalt wäre nicht gestört worden, wenn ich nicht wieder ein galantes Abenteuer gehabt hätte. Schließlich wurde ich eines Tages gefaßt, als ich gerade in Frauenkleidern steckte, um dem Zorne eines eifersüchtigen Ehemannes zu entfliehen. Ich wurde vor Gericht geführt und weigerte mich anfangs energisch, Aufklärungen zu geben. Ich setzte auseinander, daß ich entweder die Person, die mir so viel Güte bezeugt hatte, ins Unglück bringen, oder mich als Deserteur bezeichnen würde. Einige Stunden Gefängnis brachten mich aber zu einer Änderung meines Entschlusses. Ich ließ einen höheren Offizier herbeirufen, um ihm eine Erklärung abzugeben.

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 50. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_050.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)