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einer Bande von Zigeunern, die an den Grenzen von Ungarn und des Banats herumzogen, als ich in einem Karpathendorf zur Welt kam … Ich sage Zigeuner, um mich dir verständlich zu machen, denn das ist nicht unser Name. Unter uns nennt man sich Romamichel[1], in einer Sprache, die wir niemanden lehren dürfen; ebenso dürfen wir auch nicht allein reisen, das alles ist uns verboten. So kommt es, daß man uns immer in Trupps von fünfzehn bis zwanzig sieht. Wir haben Frankreich lange Zeit durchstreift, um Zauber und Verwünschungen zu heben; aber dieser Beruf ist heutzutage heruntergekommen. Der Bauer ist zu fein geworden; wir haben uns auf Flandern beschränken müssen, dort sind die Leute weniger freigeistig, und die Verschiedenheit der Geldsorgen macht’s, daß wir unsere Künste aufs schönste anwenden können … Ich selbst war seit drei Monaten in besonderen Angelegenheiten nach Brüssel abgeordnet worden; aber ich habe alles zu Ende gebracht; in drei Tagen treffe ich auf der Messe von Mecheln wieder mit der Bande zusammen … Du mußt dir nun überlegen, ob du mich dorthin begleiten willst! … Du kannst uns sehr nützlich sein … aber mach’ auf keinen Fall Kindereien mehr!“

Halb in der Verlegenheit, ein Unterkommen zu finden, halb in der Neugier, das Abenteuer bis ans Ende zu treiben, willigte ich ein, mit Christian zu gehen, wußte aber immer noch nicht, worin ich ihm nützlich sein konnte. Am dritten Tag kamen wir in Mecheln an, und von dort sollten wir ja nach Brüssel zurückkehren. Als wir die Stadt durchquert hatte, machten wir endlich in der Vorstadt Louvain halt vor einem Hause vom allerelendesten Aussehen; die schwärzlichen Mauern waren von tiefen Rissen durchfurcht und an den Fenstern ersetzten zahlreiche Strohwische die zerbrochenen Scheiben. Es war Mitternacht; ich konnte das alles beim Mondschein wahrnehmen, denn wir mußten wohl eine halbe Stunde dastehen und warten, bis endlich eines der allerscheußlichsten alten Weiber, die ich je gesehen


  1. Im heutigen Französisch: romanichel
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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_076.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)