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um einen Begriff von der Leichtgläubigkeit der Düpierten und der Schamlosigkeit der Gauner zu geben.

Die Gefängnisinsassen verschafften sich die Adressen von reichen Provinzlern, was ja beim ständigen Zufluß von Arrestanten nicht schwer war, und richteten dann an sie Briefe, die im Gaunerjargon „Briefe aus Jerusalem“ genannt wurden. Die Briefe hatten ungefähr folgenden Inhalt:


„Sehr geehrter Herr!


Sie werden gewiß erstaunt sein, diesen Brief von einem Ihnen Unbekannten zu erhalten, der Sie um einen Gefallen bittet; aber in der traurigen Lage, in der ich mich befinde, wäre ich verloren, wenn edelmütige Menschen mir nicht zu Hilfe kämen. Ich wende mich an Sie, denn man hat mir so viel Gutes von Ihnen erzählt, daß ich keinen Augenblick zögere, mich Ihnen anzuvertrauen.

Ich war Kammerdiener beim Marquis X. und emigrierte mit ihm. Um keinen Verdacht zu erwecken, wanderten wir zu Fuß; ich trug das Gepäck, unter dem sich eine Kassette mit sechzehntausend Franken in Gold, und den Diamanten der seligen Frau Marquise befand. Wir hatten beinah die Armee von … erreicht, als Steckbriefe zu unserer Verfolgung erlassen wurden. Als der Herr Marquis merkte, in welcher Gefahr wir waren, hieß er mich die Kassette in einem tiefen Moor verstecken, damit wir nicht erkannt würden, falls man uns anhalten sollte. Ich wollte in der folgenden Nacht zurückkehren, um die Kassette zu holen, aber die Bauern, die sich beim Geläut der Sturmglocke des Abteilungskommandanten zusammenrotteten, überfielen das Gehölz, in dem wir lagen, so daß wir nur an Flucht denken konnten. Als wir im Ausland ankamen, erhielt der Herr Marquis einige Unterstützung vom Prinzen Y., aber diese Quelle versiegte bald, und er beschloß, mich die Kassette holen zu lassen, die im Moor verborgen lag. Ich zweifelte keinen Augenblick, daß ich sie wiederfinden würde, um so mehr,

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 123. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_123.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)