Seite:Landstreicherleben 205.jpg

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wenn sie mich, um die scharfen Augen der Polizei zu täuschen, unter sich aufnehmen würden. Der Vorschlag überraschte sie keineswegs, sie schienen ihn fast erwartet zu haben. Zu jener Zeit konnte man, besonders im Süden, oft genug Burschen begegnen, die, um dem bunten Rock zu entgehen, sich gewissermaßen dem Schutze Gottes überließen. Und so war es ganz natürlich, daß meine Worte Glauben fanden. Die Fuhrleute nahmen mich gut auf; einige Goldstücke, die ich zum Vorschein brachte, vermehrten noch ihr Interesse für mein Schicksal. Es wurde ausgemacht, daß ich für den Sohn des Fuhrenbesitzers gelten sollte. Dementsprechend wurde ich in einen Fuhrmannskittel gesteckt und damit es den Anschein habe, ich machte meine erste Reise, wurde ich mit Bändern und Blumen geschmückt, so daß mir in jeder Herberge alle gratulierten.

Ich spielte meine Rolle ziemlich gut, aber die notwendigerweise damit verbundene Freigebigkeit versetzte meinem Beutel so empfindliche Wunden, daß ich, als ich mich in Lyon von meinen Leuten trennte, alles in allem noch achtundzwanzig Sous besaß. Nachdem ich eine Weile in den schmutzigen und trüben Straßen der zweiten Stadt von Frankreich herumgeirrt war, fand ich eine Art Schenke, wo ich ein meinen Finanzen entsprechendes Abendessen zu bekommen hoffte. Ich hatte mich nicht geirrt: das Essen war mittelmäßig und nur zu rasch zu Ende. Ungesättigt vom Tische aufzustehen ist schon peinlich, aber dazu noch nicht wissen, wo man ein Obdach findet, noch peinlicher. Während ich mein Messer abwischte, das freilich nicht besonders fett geworden war, verlor ich mich in den traurigen Gedanken, daß ich wohl die Nacht bei Mutter Natur würde verbringen müssen. Da hörte ich auf einmal am Nebentisch eine Art von verdorbenem Deutsch reden, das man in einigen Gegenden der Niederlande spricht und das ich ausgezeichnet verstand. Die Sprechenden waren ein Mann und eine Frau; ich erkannte in ihnen sofort Juden. Da ich wußte, daß in Lyon wie in anderen Städten Juden verdächtige Reisende bei sich aufnahmen, fragte ich sie, ob sie mir nicht eine

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_205.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)