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Paulet war klein, untersetzt, vierschrötig; er hatte einen Nacken wie ein Stier, breite Schultern, ein volles Gesicht, seine Züge hatten etwas Löwenartiges an sich; sein Blick war wild oder zärtlich; im Kampfe war er unerbittlich, sonst aber war er menschlich und teilnehmend. Im Augenblick, wo geentert wurde, war er ein Dämon; aber im Kreise der Familie, in der Nähe seiner Frau und Kinder, war er, abgesehen von einer gewissen Barschheit, sanft wie ein Engel; alles in allem war er ein guter Bauernsohn, einfach, naiv und dickbäuchig wie ein Patriarch; man hätte in ihm den Korsaren kaum vermutet. Aber im Moment, da er in See stach, veränderte sich sein Charakter und seine Sprache mit einem Schlag: er war brutal und grob über alle Maßen, sein Kommando erinnerte an einen orientalischen Despoten; er war kurz angebunden und duldete keinen Widerspruch; seine Hand und sein Wille waren eisern; weh dem, der ihm widersprach. So war Paulet tollkühn und gutmütig, gefühlvoll und roh zugleich, und keiner übertraf ihn an Offenherzigkeit und anständiger Gesinnung.

Paulets Leutnant war eines der sonderbarsten Geschöpfe, die ich je gesehen habe. Von Natur aus mit einer robusten Körperkonstitution begabt, hatte er schon in der frühesten Jugend durch Ausschweifungen aller Art seine Kraft vergeudet; er war einer jener Wüstlinge, die, noch bevor sie am Leben teilgenommen haben, schon im voraus von ihrem Kapital zehren. Sein glühender Kopf, seine starken Leidenschaften, seine rege Phantasie hatten ihn früh sehr weit gebracht. Er hatte noch nicht das zwanzigste Jahr erreicht, als ein Lungenleiden, verbunden mit allgemeinem Kräfteverfall, ihn bereits zwang, den Artilleriedienst zu quittieren, in den er mit achtzehn Jahren eingetreten war. Nun war der arme Junge nichts mehr als ein Gerippe; er wurde entsetzlich mager: nur ein Paar große Augen, deren wildes Schwarz die Blässe des Gesichtes noch mehr betonte, lebte noch in diesem Leichnam; aber eine feurige Seele steckte in diese Leib. Fleuriot wußte, daß seine Tage gezählt waren. Die Größen der Medizin

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 251. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_251.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)