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selbst nicht verlassen wollen. Ich erinnerte mich an meine Angeber in Lyon und die Beweggründe, die meine Verhaftung herbeigeführt hatten. Da die Lehre noch frisch war, so wollte ich sie benutzen, um meine Vorsichtsmaßregeln zu treffen. Und so zeigte ich mich so selten wie möglich auf den Straßen, und verbrachte meine ganze Zeit bei einer gewissen Frau Henri, die Korsaren in Kost nahm und ihnen Kredit gewährte mit Aussicht auf ihre künftigen Prisen.

Diese Madame Henri lebte in der Hoffnung, noch einmal geheiratet zu werden; sie war eine noch sehr hübsche und appetitliche Witwe, so gegen sechsunddreißig; sie hatte zwei reizende Töchter bei sich, die, ohne ihre Ehre zu verlieren, jedem guten Jungen, der Geld hatte, Versprechungen machten. Wer sein Geld im Hause ließ, der war gerne gesehen, aber wer am meisten ausgab, der hatte auch die meisten Chancen bei der Mutter und den Töchtern. Wohl zwanzigmal war die Hand dieser Mädchen vergeben worden, zwanzigmal waren sie verlobt gewesen, aber ihre Reputation hatte nicht darunter gelitten. Sie hatten beide eine lose Zunge, im Betragen aber waren sie sehr zurückhaltend, und obwohl sie sich nicht viel auf ihre Unschuld zugute taten, so konnte sich niemand rühmen, sie zu einem Fehltritt verleitet zu haben. Doch wieviel Seehelden waren der Macht ihrer Reize unterlegen!

Am Herde dieser empfehlenswerten Familie verbrachte ich fast einen ganzen Monat mit einer Ausdauer, über die ich mich selbst wunderte. Ich teilte meine Zeit zwischen Kartenspielen, anzüglichen Neckereien und Biertrinken.

Endlich hörte dieser untätige Zustand auf. Paulet beschloß ans Werk zu gehen: wir legten uns auf die Lauer. Aber die Nächte waren nicht dunkel genug, und die Tage waren zu lang: unser ganzer Fang beschränkte sich auf ein paar armselige Kohlenschiffe und einen Einmaster von geringem Wert; wir trafen auf ihm irgendeinen Lord, der, um den verlorenen Appetit wiederzugewinnen, mit seinem Koch eine Lustreise zur See unternommen hatte.

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 253. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_253.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)