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setzen würde. In Brest, in Toulon, in Rochefort, in Antwerpen – überall war ich unter den Dieben bekannt als einer der gerissensten und unerschrockensten. Die größten Verbrecher buhlten um meine Freundschaft, denn sie hofften, noch immer etwas von mir lernen zu können; die Neulinge lasen mir die Worte vom Munde ab. In Bicêtre hielt ich geradezu Hof: man drängte sich um mich, man umringte mich; ich genoß Vorteile und Rücksichten, von denen man sich keine Idee macht …

Aber jetzt war mir dieser Ruhm verhaßt; je mehr ich in den Seelen der Verbrecher las, je mehr sie sich vor mir entblößten, um so mehr fühlte ich mich bewogen, die Gesellschaft zu bedauern, die in ihrem Schoße ein solches Gezücht nährte. Ich hatte nicht mehr die Empfindung des gemeinsamen Unglücks, die mich früher einmal inspiriert hatte. Grausame Erfahrungen und mein reifes Alter zeigten mir die Notwendigkeit, mich von diesem Verbrechervolk zu trennen, dessen Lebensweise und dessen widerwärtige Sprache ich verachtete.

Ich war entschlossen, zur Partei der ehrlichen Leute überzugehen, was auch daraus entstehen mochte. Und so schrieb ich von neuem an Henry und bot ihm meine Dienste an. Als Bedingung stellte ich lediglich, nicht ins Bagno zurückgeführt zu werden, und erklärte mich damit einverstanden, in irgendeinem beliebigen Gefängnis meine Tage zu enden.

Mein Brief setzte die Nachweisungen, die ich führen konnte, so genau auseinander, daß Henry von ihnen überzeugt wurde. Die Tatsachen, die ich anführte, sprachen mächtig zu meinen Gunsten. Henry unterbreitete meine Bitte dem Polizei-Präfekten Pasquier, und dieser entschied sich, sie zu gewähren. Nach zweimonatlichem Aufenthalt in Bicêtre wurde ich in das Untersuchungsgefängnis zurückgebracht. Um allen Verdacht zu vermeiden, wurde unter den Gefangenen das Gerücht verbreitet, ich sei in eine sehr schlimme Geschichte verwickelt, deren Untersuchung nun beginnen sollte. Dieses Gerücht setzte mich in Anbetracht meines Rufes in guten Kredit.


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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 306. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_306.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)