Seite:Landstreicherleben 348.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

So mochten wir wohl zwei Stunden geplaudert haben. Dann bot mir Frau Noël ein Fußbad an. Ich nahm mit Dank an, und das Bad war bald bereit. Als ich meine Füße entblößte, wurde ich beinahe ohnmächtig.

„Ach, Sie Ärmster,“ rief sie in mütterlichem Ton, „was müssen Sie leiden! Aber warum haben Sie mir das nicht gleich gesagt? Sie verdienen ja Schelte!“

Und während sie mich ein wenig ausschimpfte, besah sie meine Füße. Sie stach die Blasen auf, rieb mich mit einer Salbe ein, die, wie sie behauptete, sehr schnell wirken würde, und verband mich mit einem Lappen. Es lag etwas Antikes in ihrer rührenden Gastfreundschaft; um den Vorgang ganz zur Dichtung zu machen, fehlte nur noch, daß ich ein berühmter Wanderer und Mama Noël eine vornehme Fremde sei. Nach der Fußwaschung brachte sie mir frische Wäsche. Sie vergaß nichts: sie brachte auch ein Rasiermesser und half mir beim Rasieren.

„Ich will mich nachher nach einem Handwerkeranzug für Sie umsehen,“ fügte sie hinzu. „Unter so einem Kostüm können Sie sich am besten verstecken.“

Als ich gesäubert war, führte mich Mama Noël ins Schlafzimmer. Dieser Raum diente zugleich als Werkstätte zur Herstellung von Nachschlüsseln. Der Eingang dazu war verdeckt durch einen Kleiderrechen mit Kleidern.

„In diesem Bett,“ sagte sie, „haben Ihre Freunde schon öfters geschlafen. Sie brauchen nicht zu fürchten, daß die Polizei Sie hier überrascht, Sie können ruhig schlafen.“

„Das tut mir auch not,“ meinte ich und bat um die Erlaubnis, ihr Gute Nacht sagen zu dürfen. Sie ließ mich allein. Drei Stunden später erwachte ich von meinem angeblichen Schlaf; ich stand auf, und die Unterhaltung begann von neuem. Man mußte gut beschlagen sein, um der Mama Noël standzuhalten. Es gab keine einzige Zuchthausgewohnheit, die sie nicht bis aufs Tüpfelchen kannte. Sie wußte nicht nur die Namen aller Diebe, die sie gesehen hatte, sondern sie war auch über die kleinsten

Empfohlene Zitierweise:
Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 348. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_348.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)