Seite:Landstreicherleben 355.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

aber man kann seine Fenster an gelbseidenen, gestickten Musselinegardinen erkennen. In demselben Hause wohnt eine kleine bucklige Schneiderin, die mit der Frauensperson befreundet ist, mit der Fossard lebt.“

Wie man sieht, war diese Angabe nicht so durchaus genau, daß ich direkt aufs Ziel hätte losgehen können.

Ich wußte nicht, womit ich beginnen sollte. Da ich aber voraussah, daß ich es in diese Fall hauptsächlich mit Frauen aus dem Volke zu tun haben würde, so war ich mir über die Art meiner Verkleidung sofort im klaren. Es war selbstverständlich, daß ich wie ein ehrwürdiger Herr aussehen müßte. Ein paar künstliche Runzeln, ein Haarzopf, eine Halskrause, ein dicker Stock mit goldenem Knauf, ein dreieckiger Hut, Buckeln und passender Rock und Beinkleid machten aus mir einen jener Bürger von sechzig Jahren, von denen alle alte Schachteln finden, sie seien „gut erhalten“. Ich war fest überzeugt, daß alle Buckligen auf mich fliegen würden, und zudem sah ich so bieder aus, daß es keinem einfallen würde, mich anzuschwindeln.

In dieser Verkleidung durchwandelte ich die Straße, die Nase hoch in der Luft, nach jeder farbigen Gardine spähend. Ich war so in meine Beobachtungen versunken, daß ich für alles rings um mich taub und blind war. Wäre ich etwas weniger beleibt gewesen, so hätte man mich leicht für einen Metaphysiker halten können oder für einen Poeten, der in der Region der Schornsteine einen Vers sucht. Zwanzigmal lief ich in Gefahr, überfahren zu werden, von allen Seiten hörte ich „Achtung!“ „Achtung!“

So vergingen einige Tage, ohne daß ich auch nur den Schatten meines Gegenstandes fand. Ich fühlte, daß ich ein Höllengewerbe ausübte, jeden Abend war ich wie gerädert, jeden Morgen mußte ich ganz von vorn anfangen. Dieses Manövers müde griff ich endlich zu einem anderen Mittel.

Ich hatte die Beobachtung gemacht, daß Bucklige im allgemeinen sehr schwatzhaft und neugierig sind. Sie sind die Klatschbasen ihres Viertels: nichts passiert, ohne daß sie’s wüßten. Diese

Empfohlene Zitierweise:
Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 355. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_355.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)