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Tatasache führte mich zu dem Schluß, daß die von mir gesuchte Bucklige es sich gewiß nicht nehmen ließ, bei der Milchfrau, beim Bäcker, bei der Gemüsefrau, beim Krämer oder in der Spezereihandlung ein kleines Plauderstündchen abzuhalten. Ich beschloß demnach, diese Stätten des Klatsches möglichst zu überwachen.

Aber welcher Milchfrau mochte meine Bucklige den Vorzug geben? Sicherlich doch derjenigen, die vielleicht nicht am nächsten lag, aber die über den größten Vorrat an Klatsch und Stadtneuigkeiten verfügte. Das Geschäft an der Ecke der Rue Thévenot schien mir diese doppelte Tugend in sich zu vereinigen: die Frau hatte auch eine Riesenmenge kleiner Töpfchen um sich stehen, und inmitten ihres zahlreichen Kreises hörte sie nicht auf, zu schwatzen und zu bedienen. Ich nahm mir vor, sie nicht aus dem Auge zu verlieren.

Ich lag schon den zweiten Vormittag auf der Lauer und wartete voll Ungeduld auf den weiblichen Äsop, aber da kamen lauter junge Mädchen von schlanker Statur in zierlichen Morgenkleidern, alle gerade wie ein lateinisches I. Ich war der Verzweiflung nahe … Endlich erscheint mein Stern am Horizont. Es ist das Urbild der Buckligen, die Venus der Verwachsenen, Gott, wie reizend war sie, wie herrlich gekrümmt war der auffallendste Teil ihres Signalements! Dieses übernatürliche oder vielmehr außernatürliche Wesen trat in den Milchladen ein, plauderte da, wie ich erwartet hatte, ein Weilchen, und holte sich ihre Sahne, dann ging sie beim Spezereihändler vorbei, dann blieb sie einen Augenblick bei der Gekrösehändlerin, die ihr ein Stückchen Lunge, wahrscheinlich für ihre Katze, gab, darauf lenkte sie ihre Schritte nach der Rue Petit-Carreau und verschwand in einem Hause, in deren unterer Etage ein Siebmacher wohnte. Ich erhob meine Blicke zu den Fenstern, jedoch die gelben Gardinen, nach denen ich schmachtete, waren nicht zu sehen. Ich sagte mir aber mit Recht, daß Gardinen, welche Farbe sie auch haben mochten, leichter verrückbar von ihrem Platze seien als ein angeborener Buckel, und beschloß also, mich nicht eher zurückzuziehen,

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Eugène François Vidocq: Landstreicherleben, Seite 356. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Landstreicherleben_356.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)