Seite:Leo Kriegserinnerungen 73.jpg

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in den Quartieren unbescheiden oder gewalttätig gewesen wäre, Fast überall lag im Bett ein krankes Kind oder sonst etwas Heiliges, und ich habe doch nie gesehn, dass der Simulant in seiner Ruhe gestört worden wäre; man legte sich ruhig aufs Stroh am Boden, wenn es Stroh gab. Ebenso ist es blosse Verläumdung, dass die Soldaten wertvolle Gegenstände mitgenommen hätten; nie habe ich erlebt, dass etwas ‚gerollt‘ oder ‚requirirt‘ worden wäre, was nicht zur bitteren Notdurft diente. Wenn auf Befehl etwas Gewaltsames geschah, so geschah es doch selten in rauher Weise. Einmal sah ich an, wie von einem Gehöft eine Kuh und ein Kalb requirirt wurden. Die Familie stand jammernd dabei; da sagte der Soldat, der sie berauben musste, mit tröstender Stimme, indem er auf die Kuh zeigte: grand malheur, und auf das Kalb: petit malheur. Erst in den letzten Wochen, zwischen Waffenstill­stand und Frieden, bemerkte man die Anfänge der Verwilderung. Da habe ich gesehen, wie ein Soldat eine alte Frau an den Haaren vom Kamin riss, weil sie seinen Befehl, ihn da sitzen zu lassen, nicht verstanden hatte. Es war die allgemeine Ansicht, dass schrecklich gehaust werden würde, wenn auf den Waffenstillstand neuer Krieg statt des Friedens folgen würde. Jetzt wurde jede Roheit von oben her unterdrückt, und bei Streitigkeiten entschieden die Officiere oft gegen die Soldaten, auch wenn sie eigentlich recht hatten. Aber wenn es wieder los­gegangen wäre, würde jede Rücksicht aufgehört haben.

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Friedrich Leo: Kriegserinnerungen an 1870–71. Göttingen: W. Fr. Kaestner, 1906, Seite 73. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Kriegserinnerungen_73.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)