Seite:Leo Originalität 05.jpg

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Geschichte waren. Die schöne Litteratur der Römer ist erst durch Lachmann, Ritschl, Madvig in den Mittelpunkt der philologischen Arbeit gezogen worden; und wie mit einer selbstverständlichen Beschränkung richtet sich diese Forschung auf die Form, nicht auf den Gehalt der litterarischen Werke.

So ging der Maasstab für die Beurtheilung der römischen Litteratur allmählich verloren. Für das allgemeine litterarische Bewusstsein war sie entwerthet, die allgemeine Bildung kam auf ihren Romfahrten mit ihren allgemeinen gräcisirend klassizistischen Vorstellungen aus; die Wissenschaft stand mit einer Art von Verlegenheit vor der Aufgabe, an Stelle der selbstverständlichen Bewunderung früherer Zeiten Werthurtheile begründen zu sollen. Als nun der Mann erschien, der als der erste das römische Alterthum in seinem Geiste zusammenfasste und als ein Ganzes Geschichte, Staat und Recht nachschaffend vor Augen stellte, da schien der Prozess des Weltgerichts eine böse Wendung für die römischen Litteraten zu nehmen. Theodor Mommsen skizzirte in der römischen Geschichte die Entwickelung der Litteratur wie nur er es konnte. Aber der zur Vollendung gekommene Theil dieses Werkes reichte nur bis zu Cäsar und Cicero, über die grosse Poesie der augusteischen Zeit kam Mommsen nicht zu Worte; und Cicero erschien dem Historiker, der den Politiker Cicero verachtete, nicht als der Vollender der römischen Prosakunst und das Haupt der griechisch-römischen Bildung, das er war, sondern als ein gedankenloser Wortemacher und Schwächling. Dem Grossen folgten die Kleinen; und wenn der grosse Cicero von seinem Throne sank, so durfte sich Niemand scheuen, auch den Andern die Kränze vom Haupt zu reissen, die sie nun fast Jahrtausende lang mit Ehren trugen.

Intra muros et extra. Wo das Urtheil nicht umfiel, da schwankte es doch wie das Rohr im Winde. Freilich wehten die Winde scharf. Die Interpretation wies im Einzelnen die Vorlagen berühmter Dichter nach, die Quellenuntersuchung lehrte, dass berühmte Schriftsteller ihren Stoff aus zweiter oder dritter Hand entnommen hatten. Die Grössen der früheren Zeit wurden immer mehr zum wissenschaftlichen Stoffe. In der Schule wurde stets ein kleiner Kreis von Autoren gepflegt, um die man sich um ihrer selbst willen bemühte; aber diese ganze Produktion ist zu komplicirt für ein junges Gemüth, zu wenig im Kantischen Sinne naturgleich, zu sehr im Schillerschen Sinne sentimental; sie stellt die Schule, die das ästhetische Verständniss erschliessen möchte, vor überschwere Aufgaben.

Empfohlene Zitierweise:
Friedrich Leo: Die Originalität der römischen Litteratur. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 1904, Seite 5. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Leo_Originalit%C3%A4t_05.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2016)